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1984

Hamburger Sprechwerk
1984

Nicht nur im Spiegel ein gebrochener Mann: Winston Smith (Tobias Kilian)

Text: Hans-Peter Kurr | Foto: Stefan Malzkorn

Eine besonders erfolgreiche Produktion verlangt selbst in Hamburgs Off-Theatern nach Wiederaufnahmevorstellungen. In diesem Fall zählt Konstanze Ullmers Inszenierung der dramatisierten Bühnenversion des George-Orwell-Romans „1984“ dazu. Die Würdigung dieser herausragenden Arbeit erfolgt mit tagespolitisch aktuellen Beispielen, die zeigen sollen, dass wir über Orwells 1948 geschriebene Vision – im negativen Sinn – weit hinaus sind:

1) Der amerikanische Präsident Obama sprach von einem „Tag der Schande“, als sein Kabinett einer eher schwachbrüstigen Verschärfung der US-Waffengesetze mehrheitlich nicht zustimmte.

2) 800 deutsche Soldaten werden ab Anfang 2015 afghanische Regierungssoldaten zu willenlosen Killern ausbilden, bereit, jedem Befehl zu gehorchen. In der deutschen NS-Zeit nannte man diese antrainierte Haltung Kadavergehorsam.

3) Angesichts der in der Nazizeit im Deutschland des vorigen Jahrhunderts verübten Massenverbrechen, dem Zivilisationsbruch der Shoa, mutierte die Nation eines Goethe, Schiller, Lessing, Herder, Bach in ein Mörder- und Mitläuferkollektiv, dessen Entstehung und Dauer bis heute nicht schlüssig zu erklären sind.

4) Zwischen 1956 und 1958 gab es in der damaligen UdSSR eine temporäre Verketzerung Josef Stalins, des damaligen „Großen Bruders“, die stante pede eine riesige Verhaftungswelle und massenhafte Hinrichtungen nach sich zog.

5) Heute hat die sämtliche Nachrichtenkanäle randvoll füllende Terrorpolitik der ISIS zur Folge, dass selbst ein politisch uninteressierter Mensch (den es heutzutage gar nicht mehr geben dürfte) zur Kenntnis zu nehmen hat, dass diese Terrororganisation dreieinhalbtausend Gefangene schikaniert und ankündigt, einen nach dem anderen in der Wüste vor laufenden Kameras zu köpfen und verbluten zu lassen wie ein geschlachtetes Huhn.

6) In Artikel 22 des Communiqués der Westeuropäischen Union vom 17. März 1948 (dem Jahr also, in dem Orwell seinen Roman „1984“ beendete, den er bewusst mit dem diesbezüglichen Zahlendreher betitelte) heißt es: „Alle Mitglieder der Union (damals Belgien, BRD, Frankreich, Luxemburg, die Niederlande und Großbritannien) unterrichten das ‚Amt für Rüstungskontrolle’ über Art und Zahl der Waffen, die zur Ausfuhr aus ihrem Gebiet auf dem europäischen Festland bestimmt sind.“

7) Der jüngst verstorbene Welterklärer Peter Scholl-Latour formulierte, als in Rotchina noch Mao grausam und brutal regierte: „Maos ständige Drohung mit einem Krieg gegen die indische Halbinsel mag die Inder veranlassen, ihr eigenes Militärbudget so stark zu erhöhen, dass ihr wirtschaftlicher Aufschwung nahezu vollständig gestoppt wird.“

8) In seiner Schrift „Was gilt es in diesem Kriege“ (1809) postuliert Heinrich von Kleist „Es gilt, dem Menschengeschlecht eine Dienstleistung abzuverlangen, die sie schuldig geblieben ist: Eine Gemeinschaft zu schützen, die an den Obelisken der Zeiten überleben muss, und die nur mit Blut, vor dem die Sonne verdunkelt, zu Grabe gebracht werden soll.“

9) Cicero lässt Scipio im ersten Buch seiner bedeutenden Schrift „Der Staat“ sagen: „In allzu schweren Kriegen wollen unsere Leute einen Diktator haben, der dann fälschlicherweise ‚Meister des Volkes’ heißt, das er in Wirklichkeit ausbluten lässt.“

Wer diese wenigen Beispiele verinnerlichen mag, dem kommt die im Hamburger Sprechwerk mit einer triumphalen Premiere gefeierte Inszenierung Konstanze Ullmers der durch Pavel Kohout in Bühnenform gebrachten Deutschen Erstaufführung des gespenstischen Orwell-Romanes genau zum rechten Zeitpunkt – in einer Welt, in der noch immer das Gros der Menschheit zu glauben scheint, die Evolution hätte zur Veredelung dieser der Familie der Säugetiere angehörenden „Spezies Mensch“ bereits Wichtiges beigetragen, obwohl sie bisher ja im Wesentlichen zur Vergrößerung der Gehirnmasse und zum aufrechten Gang geführt hat. Und da das Entwicklungstempo der Evolution gern unterschätzt wird, wird dies auch noch einige Jahrhunderte (oder Jahrtausende?) so bleiben.

Ullmer hat für die Rollen ein hervorragendes Darstellerteam zusammengestellt: Mit Ines Nieri und Tobias Kilian als der Gehirnwäsche, der Folter und dem Tod geweihtes Liebespaar Julia und Winston Smith, dem (nicht nur körperlich) riesigen Tom Pidde in der Doppelrolle O’Brian und Parsons, der im Sprechwerk seit dessen Bestehen nahezu dauerbeheimateten Jasmin Buterfas, dem drei Episodenrollen gekonnt differenzierenden Stephan Ahrweiler sowie den zwei Kindern der Regisseurin, Undine und Kassandra, die – hoffentlich – in die „bessere Welt von Morgen“ hineinwachsen werden.

Da dies die einzige Sprechwerkproduktion der Spielzeit 2014/15 ist, die von der Hamburger Kulturbehörde finanziell unterstützt wurde, kann Ullmer mit Film, Video, Ton und Licht eine erschütternde Szene (Kanade Hamawaki) um die glänzenden Darsteller herum zaubern lassen, die von Ferne an Staatstheatermöglichkeiten erinnert.

Auf den Inhalt des Romans und seiner Dramatisierung soll an dieser Stelle nicht näher eingegangen werden, weil tout le monde glaubt, ihn zu kennen, realiter aber nur wenige Menschen die Unergründbarkeit dieser Novelle über einen totalitären Überwachungsstaat wirklich verinnerlicht haben.

Ullmers und ihres Dramaturgen Andreas Lübbers’ beneidenswert bester Einfall: Winston Smiths Tagebucheintragungen aus den Gedanken Edward Snowdens zu rekrutieren. Ein Ausnahmeabend!

Nächste Vorstellungen: 23., 24. und 25.9.14, jeweil 20 Uhr, Hamburger Sprechwerk

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