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Was man von hier aus sehen kann

Hamburger Kammerspiele
Was man von hier aus sehen kann

Ziemlich schräg: Selma (Gilla Cremer) kann den Tod voraussehen.

Text: Dagmar Ellen Fischer / Foto: Bo Lahola

Gern starten Rezensenten mit einem schillernden Zitat oder einem eigenen provokanten Satz – in beiden Fällen soll möglichst prägnant auf den Punkt gebracht werden, um was es in der zu besprechenden Aufführung geht. Doch in diesem Fall kann man nicht mal eben beschreiben, „Was man von hier aus sehen kann“: Die Uraufführung des Theaterstücks nach dem gleichnamigen, hochgelobten Roman von Mariana Leky eröffnete am 5. September 2019 die neue Spielzeit in den Hamburger Kammerspielen – und geriet zum Fest für Akteure und Publikum.

Gilla Cremer hat sich verliebt. Das ist nichts Neues, in der Vergangenheit ließ die Hamburger Schauspielerin die Öffentlichkeit oft teilhaben, wenn ihre Verliebtheiten in einen wunderbaren Abend auf der Bühne mündeten. Im aktuellen Fall aber scheint es sie derart heftig erwischt zu haben, dass sie ungeahnte Kräfte mobil machen und das Publikum geradezu schwindlig spielen kann: Sie hat sich nicht nur in Lekys Sprache, sondern auch in sämtliche Figuren des Buches verliebt. Anders ist es nicht zu erklären, dass sie die zehnjährige Luise, deren Großmutter Selma, aber eben auch die erwachsene Luise sowie eine Tante und weitere Bewohner eines Dorfes im Westerwald durch Wort- und Körpersprache so überzeugend lebendig werden lassen kann. Ihr zur Seite agiert Rolf Claussen, der differenziert sämtliche männlichen Rollen verkörpert: Luises Kinderfreund, ihren Vater, aber auch ihre große Liebe – einen buddhistischen Mönch – sowie den Verehrer der Großmutter. Und während beide abwechselnd in die Erzähler-Rolle springen, entsteht über zweieinhalb Stunden hinweg ein facettenreiches Bild dieser Dorfgemeinschaft, zu der man am liebsten sofort gehören möchte – und das, obwohl traurige, gar tragische Dinge passieren; aber in diesem Kosmos wird niemand ausgemustert, selbst wenn er so exotisch aussähe wie ein Okapi.

Mit diesem seltsamen Tier, das eines Nachts erneut in Selmas Traum auftaucht, fängt die Geschichte an. „Nach einem Okapi kann eigentlich nichts mehr kommen“, zitiert Gilla Cremer. Doch in diesem Dorf kommt nach dem Okapi der Tod: Jedes Mal, wenn Selma von einem Okapi träumte, starb jemand …

Regisseur Dominik Günther stellte das richtige Maß an Distanz her, das Verliebten guttut. Man könnte diesen Abend zur Pflichtveranstaltung deklarieren, das aber würde dem lebensbejahenden, lustvollen Humor von Buch und Theaterstück nicht gerecht. Stattdessen lieber einen Satz, der doch noch auf den Punkt bringt, worum es hier geht: „Was man von hier aus sehen kann“ erzählt „von der unbedingten Anwesenheitspflicht im eigenen Leben“ (auf der Buchrückseite zu lesen).

Vorstellungen bis 12.11.2019, Hamburger Kammerspiele, Karten 10 bis 43 Euro, Tel. 41 33 440 

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