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Dancekiosk

Hamburger Sprechwerk
Lotte Müller auf der Suche nach einer gemütlichen Sitzposition in „relaxa@tion“

Lotte Müller auf der Suche nach einer gemüt­li­chen Sitz­po­si­tion in „relaxa@tion“

Text: Birgit Schmalmack | Foto: photo harbour

Wie weit der Rahmen für Contem­porary Dance gesteckt ist, das bewies der dritte Auffüh­rungs­block des dies­jäh­ri­gen „Dance­ki­osks“ unter der Leitung von Angela Guer­reiro im Hambur­ger Sprech­werk am 22.10.14. Es begann mit einer skur­ri­len Opern­per­for­mance, ging weiter mit einer kurzen Rap-Panto­mime zum Thema Zukunft, dann einem schön getanz­ten Pas de deux und endete mit einem artis­ti­schen Zwei­kampf zwischen Frau und Sessel.

Alte Opern­di­ven stan­den in „Matilda Carlota“ im Mittel­punkt des Inter­es­ses der beiden Künst­ler Jonas Lopes und Lander Patrick. Ganz­kö­per­strumpf­ho­sen bede­cken die Haut mit schwar­zen Blumen oder Raub­tier­mus­tern. Gezierte, abge­zir­kelte Bewe­gun­gen spre­chen von jahre­lang einstu­dier­ten Bewe­gungs­ab­läu­fen. Hier ist kein Griff, keine Geste unge­küns­telt. Auch der Haus­an­ge­stellte weiß genau, was er zu tun hat. Ob Tee reichen, ab Geschirr abräu­men, ob am Klavier die rich­tige Begleit­mu­sik spie­len – immer wirkt alles so, als ob alles schon oft geprobt worden ist. Dann hebt die Diva zu singen an. Sie steht auf dem Tisch und genießt ihren einsa­men Auftritt. Doch die Geis­ter ihrer Vergan­gen­heit spuken in ihrem Kopf. Sie sticht sich immer wieder mit dem Bluts­fa­den in ihr Kleid. Immer enger schnürt sie ihr Korsett zusam­men. Dann sticht sie sich in den Bauch. Sie gebiert Gedan­ken, die wie Haie durch den Raum schwe­ben, während Stim­men aus dem Saal das Stabat Mater anstim­men. Derweil tanzt sie mit dem einzi­gen Mann, der ihr verblei­ben ist, dem Diener, einen Tango. Rätsel­hafte und wunder­schöne Bilder bescher­ten die viel­sei­tig begab­ten Künst­ler Lopes und Patrick aus Portu­gal und Brasilien.
Die Spanie­rin Irene Sequei­ros ist im „Crash­kurs“ auf der Suche. Ziel­los und bald atem­los läuft sie von einem Ende des Raumes zum nächs­ten. Dann bleibt sie stehen, bewegt nur noch jeden Körper­teil einzeln im lang­sa­men Hin- und Herzu­cken. Ein Rapsong ertönt. Ein Loblied auf die Mutter, die treu zu dem Loser­sohn steht, obwohl der sie auf ganzer Linie enttäuscht hat. Sequei­ros bewegt sich dazu auf dem schma­len Licht­strahl mit ausgrei­fen­den Bewe­gun­gen, so dass ihr Schwan­ger­schafts­bauch sicht­bar wird. Zum Schluss steht sie bewe­gungs­los da und blickt ratlos in die Zukunft. Wie wird sich ihr Leben wohl durch das noch Unge­bo­rene verän­dern? Ein selbst­iro­ni­sche Perfor­mance, die gekonnt in schnel­lem Szenen­wech­sel in nur acht Minu­ten eine ganze Geschichte erzählt.
Um Bindun­gen zwischen zwei Menschen geht es bei Sina Rundel und Jerome Zeit­ner in einem Ausschnitt der Choreo­gra­phie „Safety“ von Orthia Jöns-Anders unter dem Titel „Von Gleich und Gleich“. Sina hat nur Augen für eine: Selbst­ver­liebt kreist sie ausschließ­lich um sich selbst, strei­chelt und betrach­tet sich. Keinen Blick hat sie für den Mann, der sie schon die ganze Zeit betrach­tet. Immer wieder versucht er sich mit abrup­ten, hefti­gen Bewe­gun­gen bemerk­bar zu machen. Immer verzwei­fel­ter krei­sen seine Arme, schlägt er mit dem Ellbo­gen, fällt auf den Boden, bis er ganz liegen bleibt. Erst jetzt wird die Frau neugie­rig und beginnt, sich für ihn zu inter­es­sie­ren. Mit neuer Ener­gie verse­hen, fängt er wieder an zu tanzen und sie folgt ihm dabei. Sie lässt sich von ihm inspi­rie­ren, doch merkt bald, dass sie dabei ihr eige­nes Selbst aufge­ben muss. Zum Schluss geht sie weg, doch wird sie noch dieselbe sein?
Zum Schluss kämpft Lotte Müller in „Relaxa@tion“ mit einem Sessel. Eigent­lich ein Gegen­stand der Erho­lung wird er bei ihr zum Sinn­bild für ihren Kampf mit dem Alltag. Eine gemüt­li­che Posi­tion will sich nicht finden lassen. Beim Hin- und Herrut­schen kippt er auf einmal um und reißt sie dabei fast mit. Müller entdeckt neue Möglich­kei­ten. Statt den Sessel mühsam zu tragen, kann sie ihn mit ihrem eige­nen Gewicht in die rich­tige Rich­tung kippend rollen. Doch auch zum Hand­stand­ma­chen oder Gewicht­he­ben eignet sich ein Sessel hervor­ra­gend, wenn man wie Müller nicht nur ausge­bil­dete Tänze­rin, sondern auch Artis­tin ist. Eine herr­lich absurde Performance!
Am Frei­tag, 24.10.14, und Sams­tag, 25.1014, ab 20 Uhr gibt es letzte Gele­gen­hei­ten zu weite­ren Einbli­cken in die abwechs­lungs­rei­che derzei­tige Tanz­szene. Dann werden die drei Hambur­ger Dance­ki­osk-Resi­dence-Künst­ler Jonas Wolter­mate, Fran­ziska Henschel und Rebecca Egling ihre Arbei­ten zeigen sowie ein Gast­spiel aus Köln von Silke Z./resistdance zu sehen sein.

Info: www.dancekiosk-hamburg.de

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