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Herr Paul

Hebebühne
Herr Paul

Verstehen sich auch ohne Worte: Herr Paul (Uwe Serafin) und Anita (Viktoria Reinhardt)

Text: Sören Ingwersen | Foto: Einwirkzeit

Mobilität ist der Schlüssel zum Erfolg in einer globalisierten Gesellschaft. Das zumindest wollen uns Unternehmensleiter und Karrieretrainer immer wieder weismachen. Der im letzten Sommer verstorbene Dramatiker Tankred Dorst schuf im Jahr 1994 eine markante Gegenfigur zum flexiblen, allseits bereiten Arbeitsnomaden der Jetztzeit. Und das Theater-Produktionsteam „Einwirkzeit“ hat sie in der Hebebühne in Altona wieder zum Leben erweckt.

„Herr Paul“ sitzt breitarmig auf seinem roten Sofa, als ob ihm die Welt gehört. Dabei gehört ihm eigentlich gar nichts. Auch nicht die Halle der ehemaligen Seifenfabrik, in der er seit Jahrzehnten haust und die er nun räumen soll. Herr Helm, der junge Erbe der Fabrik wittert nämlich das ganz große Geld. Deshalb möchte er das alte Gebäude zu einer Wäscherei ausbauen. Doch Paul, der zum Glücklichsein nicht mehr braucht als einen Plattenspieler, ein paar Bücher und die Gesellschaft seiner Schwester Luise, denkt gar nicht daran, seinen angestammten Wohnort zu verlassen. Da helfen weder Versprechen noch Drohungen und zuletzt nicht einmal rohe Gewalt.

Regisseurin Heike Skiba lässt Helm auf einer freien Fläche vor der Bühne gegen Paul antreten, der oben selbstherrlich auf seinem Sofa thront und das Katz-und-Maus-Spiel mit seinem ungebetenen Besucher sichtlich genießt. Dabei befeuert Uwe Serafin seinen Paul mit einer so rastlosen Energie, dass die träge Sesshaftigkeit dieser Figur wie eine bloße Behauptung wirkt. Paul, der Sozialökonomie studiert hat und Tiere ausstopft, tanzt hier griechische Folklore, balanciert Langspielplatten und streut Kissenfedern, als wolle er schon morgen mit seinem Zirkus in die nächste Stadt ziehen. Sven Boldt muss als der junge Herr Helm bald einsehen, dass ihm zur Umsetzung seiner geschäftlichen Ambitionen das Rückgrat fehlt, und lässt auch seine Figur recht farblos dastehen. Als Freundin Lilo, eine Krankenschwester mit Varieté-Träumen, sorgt Jessica Rusch für ausreichend Lippenstift, um auch dem herzenskalten Investor Herrn Schwarzbeck etwas einzuheizen. Schneidig der Auftritt von Ralf Janz, der – einen Kopf kleiner als Helm – mit einem vier Meter langen Lüftungsrohr den Saal betritt: die Männlichkeitsdemonstration eines Baulöwen. Eine schöne Verschrobenheit gibt dagegen Marion Gretchen Schmitz ihrem Fräulein Luise mit auf den Weg: Pauls Schwester, die „Affenforscherin“, die ganz aus dem Häuschen ist, weil sie eine Freikarte für Verdis „Aida“ ergattert hat. Den Ruhepol und Blickfang in diesem schrägen Typen-Kabinett bildet Viktoria Reinhardt als Pauls schwachsinnige Freundin Anita, die am Boden sitzt, Ekel-Bilder aus einem Anatomiebuch ausschneidet und zwischendurch auch mal zur Gitarre greift.

So weit, so skurril. Aber was möchte der Autor uns mit seinem ziellos wuchernden Text eigentlich sagen? Dass Menschen aus ihren Lebensräumen vertrieben werden, weil sie den Interessen des Kapitals im Weg stehen? Dass die Ärmsten immer die schlechtesten Karten haben? Dass die Jungen das Alter nicht gebührend respektieren? Viele Lesarten sind möglich. Bei Dorst triumphieren letztendlich die Schwachen. Und das, obwohl Helm Paul in einem Tobsuchtsanfall schließlich zu Tode prügelt. Doch der feiert bald darauf seine strahlende Auferstehung. Die Faulheit wird uns erlösen. Amen.

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