Kritik / Tanz & Performance

Kiosk mit breiter Angebotspalette

„Dancekiosk“, Hamburger Sprechwerk
Ira Demina

„-0,57° Celsius“ von und mit Ira Demina // Foto: Anja Beutler

„Verena, wann tanzen wir?“ So hieß eine der Produk­tio­nen, die auf dem Dance­ki­osk gezeigt wurden. Sie hätte als Motto des gesam­ten Festi­vals dienen können. Die Auffas­sun­gen von Tanz können sehr unter­schied­lich sein. Das bewie­sen die 16 Auffüh­run­gen - manch­mal prall­ten die Vorstel­lun­gen wie in der oben erwähn­ten sogar inner­halb einer Arbeit aufein­an­der. Die Leite­rin des Festi­vals, Angela Guer­reiro, hatte in ihrem dies­jäh­ri­gen Kiosk somit für alle Geschmä­cker etwas im Ange­bot: Perfor­man­ces, Tanz­thea­ter, Vorträge mit Tanz­ele­men­ten und Arbeits­pro­jekte stan­den neben ausge­reif­ten Choreographien.

Dieses Jahr lief das Festi­val, das Guer­reiro zum sechs­ten Mal orga­ni­siert hat, über fast zwei Wochen – vom 13. bis 23. Juli. Das Inter­esse der Tänzer war groß: Nur rund ein Drit­tel der Produk­tio­nen, die sich bewor­ben hatten, konn­ten im Hambur­ger Sprech­werk gezeigt werden.

Eine Arbeit, die begeis­terte, war die von Ira Demina. In „-0,57° Celsius“ bewies sie großes Tanz- und Bühnen­ta­lent. Sie zeigt, was bei blut­ge­frie­ren­den Tempe­ra­tu­ren noch möglich ist und was passiert, wenn die Körper­funk­tio­nen allmäh­lich ausset­zen. Man sieht abge­hackte Bewe­gun­gen, abtas­ten­des Befüh­len der Körper­teile, mühsa­mes Voran­schie­ben der Beine, Röcheln, Husten, Einigeln und Tanz­se­quen­zen, in deren Verlauf jede Muskel­gruppe geson­dert gesteu­ert wird. Wenn Demina zum Schluss mit einem Luft­bal­lon um den Hals auf die Bühne kommt, wirkt das wie ein Sinn­bild für das Höhere, das sie am Leben erhal­ten hat, wenn auch seine „gewich­tige” Wirkung nur einge­bil­det sein mochte.

Maike Mohr dage­gen betrieb in „Faces of Maike Mohr“ Studien in eige­ner Sache. Sie unter­suchte in ihrem span­nen­den und mitrei­ßen­den Beitrag die Wand­lungs­fä­hig­keit des Menschen am Beispiel Maike Mohr. In immer neuen Outfits erschien sie auf der Bühne und lieferte jeweils ein ganz ande­res Bild von sich. Sie mutierte blitz­schnell von einer MTV-Video-Tänze­rin zu einer Break­dan­ce­rin in Kapu­zen­pulli oder zur barfü­ßi­gen, priva­ten Maike in Schlab­ber­hemd und führte vor, wie sehr der erste Eindruck trügen kann.

Jascha Viestädt ist der ausdrucks­starke Tänzer in „Selbst­ge­stalt - eine Solo­per­for­mance” von Phil­ipp van der Heij­den. Ausdrucks­for­men für das Selbst werden gesucht. Robbend, krie­chend, schrei­end, grun­zend oder tanzend werden sie zeit­weise gefun­den. In sich geschlos­sen, kryp­tisch blei­ben die zum Teil inter­es­san­ten Einzel­bil­der und wollen sich zu keinem Ganzen fügen.

Viel entge­gen­kom­men­der war „Ex-Posé“ von Anasta­sia Schwarz­kopf. Frech, kokett und selbst­iro­nisch fragte sie nach den Bildern im Kopf der Zuschauer. In immer neuen Posen spielte sie gekonnt mit der Selbst- und Fremd­wahr­neh­mung, die sich im gebors­te­nen Spie­gel, in den Video­fil­men und in den aushän­gen­den Aktzeich­nun­gen widerspiegelten.

Die faszi­nie­rende Arbeit „Frugal Feasts“ von Rachel Birch-Lawson und Khyle Eccles bildete den Höhe­punkt des gesam­ten Festi­vals. Tech­nisch perfekt, liefern sich die zarte kleine Frau und der große Mann einen span­nen­den Kampf um Macht, Mani­pu­la­tion, Abhän­gig­keit, Unter­drü­ckung und Liebe. Wie der Mann sich auf der Frau hängen lässt, wie sie ihn nur mit einer Hand auf dem Boden fest­na­gelt und ihm damit jede Bewe­gungs­frei­heit nimmt, wie er sich die Frau zwischen Brust und Beine hängt, wie sie sich halb umar­mend, halb ringend über die Bühne rollen, wie sie ihn mit ihrem Kuss in die Knie zwingt und wie er sie zum Schluss apathisch hängend in Schwerst­ar­beit über die Bühne trägt - all das macht diese psycho­lo­gi­sche Bezie­hungs­stu­die in seinen plötz­li­chen Wendun­gen so span­nend wie einen Krimi.

Choreo­gra­phen brau­chen Ideen und sie brau­chen Bewe­gun­gen, die diese Ideen auszu­drü­cken vermö­gen. Manche Arbei­ten des Festi­vals vermit­tel­ten einen sehr kommu­ni­ka­ti­ons­ar­men Eindruck und blie­ben in sich verschlos­sen. In ande­ren wurde die Fanta­sie der Zuschauer so gekonnt ange­regt, dass sie Geschich­ten ohne Worte erzähl­ten. Und immer wieder gönn­ten die Künst­ler ihrem Publi­kum auch das Erleb­nis einer emoti­ons­ge­la­de­nen, mitrei­ßen­den Sogwir­kung aus Musik und Tanz. Guer­reiro hat mit ihrem Dance­ki­osk ein nied­rig­schwel­li­ges Ange­bot geschaf­fen, dem jedes Elitäre fremd ist und das zum Austausch über Tanz anre­gen will. Hamburg braucht diese Räume für Tanz­thea­ter. Der allabend­li­che große Zuschau­er­an­drang zeigte, dass die Hambur­ger das ebenso sehen.

Birgit Schmal­mack

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