Highlight / Kritik / Kritik / Kritik / Musiktheater / Schauspiel / Tanz & Performance

Lauwarm

Sommerfestival, Kampnagel
Kiss & Cry

Der Publikumsliebling des Festivals: "Kiss & Cry"

Es gab schon heißere Sommerfestivals auf Kampnagel. Am Wetter lag es dieses Jahr nicht. Das aus sprießenden Weizengrastöpfen geformte Motto „Sommer“ im Foyer blieb kein leeres Versprechen und der mit hohem Matschrisiko behaftete Bodenbelag aus alten Autopolstern von Regengüssen verschont. Der künstlerische Leiter Matthias von Hartz hatte jedoch hauptsächlich alte Bekannte mit altbekannten Ideen für seine letzte Saison nach Hamburg eingeladen.

Auf der Hafenkonzertrundfahrt von Schorsch Kamerun, die das Festival dieses Jahr eröffnete, kam nur die schön glitzernde Elbe groß raus. Die Songs, die Kamerun mit seiner Band hinterm Perlenvorhang zum Besten gab, schmückten sich mit alternativen Sichtweisen, die leider ebenfalls verborgen blieben. Und ein letzter Song über die „Spirale des Kreises“, in der sich das Leben, die Wirtschaft und auch Hamburg um sich selber drehe, fasste auch den Tenor des Liederabends von Kamerun wunderbar zusammen.

Das Stilmittel der Wiederholung bestimmte viele der weiteren Produktionen. 25 Bewegungen, 24 Tänzer – aus diesen formalen Gegebenheiten formt Boris Charmatz in „Levee des conflicts“ einen Tanzabend, der entweder faszinierte oder langweilte. Als Zuschauer konnte man in das meditative Arrangement eintauchen oder wurde von der scheinbaren Eintönigkeit und Formlosigkeit eingeschläfert.

Wer sich auf diesen Bewegungskanon einließ, konnte Bilder entstehen sehen, die die unterschiedlichsten Fantasien anregten. Man mochte an fest getakteten Alltag in heutigen Gesellschaften denken. Man sah, als das Tanzensemble sich zu einem Fleck in der Mitte ballte, einen rückwärts laufenden Urknall. Man erkannte in der Verlangsamung der Bewegungen die Erlahmung der Kraft des Menschen, der dem Tode nahe sich wieder zu Erde verwandelt. Leider kamen diese zaghaften dramaturgischen Veränderungen innerhalb des starren Konzeptionskonstrukts sehr spät.

Mit einem Aufguss einer alten Arbeit aus dem Jahre 2010 war das Rimini Protokoll zu Gast: „Prometheus in Athen“. Aus der Filmdokumentation über die damalige Aufführung in Heraklion traten sechs Darsteller auf die Kampnagelbühne. Das Entscheidungsspiel, das Rimini dieses Mal in Szene setzte, bot jedoch leider sehr wenig Spielraum für die griechischen „Lebensexperten“. Bei Fragen nach Steuerhinterziehung, der Bereitschaft für die Familie jemanden zu töten, dem Verbleib in der EU, den Gefühlen Deutschland gegenüber sowie nach dem Stellenwert der Wahrheit mussten sie sich stets auf eine der Seiten schlagen: „Ich“ oder „Ich nicht“. Dass es dennoch ein persönlicher Abend wurde, lag hauptsächlich an den sympathischen Darstellern. Auch wenn diese Produktion der Riminis nicht zu ihren stärksten gehört, hatte sie eines erreicht: Ein einfaches Aburteilen der „Griechen“ dürfte nach diesem Abend wesentlich schwerer fallen.

Auch Anne de Keersmaeker war mit einer alten Arbeit zu Gast. „Elena’s Aria“ stammt aus dem Jahre 1984. Wie zierliche Störche staksten die Frauen in ihren engen Kleidern über die Bühne oder rollen sich von einem Wartestuhl zum nächsten. Die Arien, die wie von ferne die Sehnsucht der Frauen anheizten, sind ebenso aus einer anderen Zeit wie die vorgezeichneten Aktionsradien. Diese frühe Choreographie von de Keersmaeker bedient sich reichlich aus dem Stilmittel der ständigen Wiederholung von Bewegungsmustern. Das erwies sich für viele Zuschauer in der großen Halle K6 als so ermüdend, dass sie den Saal vorzeitig verließen. Die Tänzerinnen, die ganz in ihrer geschlossenen Bewegungswelt gefangen waren, schafften erst in der allerletzten, kurzen Szene den Kontakt zu den Zuschauern im Hier und Jetzt aufzunehmen. Als sich die fünf in einer Reihe direkt vor der ersten Zuschauerreihe setzen, vollführen sie keine gekünstelten Bewegungen mehr, sondern zeigen in Alltagsbewegungen, wie ihnen wirklich zu Mute ist. Ein sehr ehrlicher Moment und der berührendste.

Nein, das Leben von Kristin Woodrall ist kein Krimi. Auch wenn das Nature Theater of Oklahoma die Episoden in „Life and Times 3 & 4“ ihres Lebens in der Kulisse einer Agatha-Christie-Krimis in Szene setzen. Waren die acht Live-Sprecher von Kristins Originalaufzeichnungen bei der ersten und zweiten Episode in ihrer Musicalshow noch in jugendlichen Aerobic-Aktionismus ausgebrochen, so sind sie jetzt in der Kulisse erstarrt. Das passt gut zu Kristins Leben, zu dem sie am Ende des dritten Teiles selbstkritisch bemerken muss: „Just a mess of nothing!“ Ihre Erinnerungsfetzen berichten von so wichtigen Erfahrungen wie der Pubertät im Allgemeinen und die Entdeckung der ersten Schamhaare, das Erlebnis der ersten Periode, des ersten Kusses, des Verknalltseins und der vermeintlich großen Liebe im Besonderen. Wie der Erhalt einer Zahnspange zu einem Wendepunkt des Lebens werden kann, wird auch nicht ausgelassen.

Waren schon die beiden ersten Episoden nicht von großer Abwechselung geprägt, so wirkte die Weiterführung nun einschläfernd. Dass zum Schluss Außerirdische kommen, um sich die merkwürdige Szenerie dieser Erdlinge anzugucken, erlebte schon gut die Hälfte der Zuschauer nicht mehr. Ob die Ankündigung der nächsten Episoden die Spannung schürt, wie es weitergeht, darf bezweifelt werden.

Zum Publikumsliebling wurde „Kiss & Cry“. Kein Wunder, denn hier mischte sich Experimentierfreudigkeit mit Detailverliebtheit und Ideenreichtum. Genau die Zutaten, die man bis dahin auf dem Sommerfestival oft vermissen musste.

Wo sind sie hin, all die verflossenen Lieben von Gisela? Einsam sitzt sie auf dem Bahnsteig und träumt von ihren Liebhabern. Einige waren eher wie eine Zwiebel, die Gisela zum Weinen brachte, andere waren wie eine Käsereibe, nützlich nur für einen Zweck.

Liebevoll und detailreich spüren der Filmregisseur Jacob Van Dormael und die Choreographin und Tänzerin Michèle Anne De Mey dieser Liebes- und Lebensgeschichte nach. De Mey lässt in dieser Produktion nur Hände tanzen. Zusammen mit den Medien Film, Text und Musik werden in aufwändiger Miniaturtechnik live auf der Bühne immer neue Kulissen erschaffen, die Giselas Leben auf die Bühnenleinwand werfen. Wunderbare Bilder, deren Entstehung man auf der Bühne mit verfolgen kann, entführen in die melancholische Gedankenwelt dieser Frau, die derweil als kleine Figur vor dem Bahnhofsgebäude sitzt. Da drehen Züge mit viel Dampf ihre Runden. Da versuchen sich die Hände der Liebenden auf der Lebenschaukel zu berühren. Da tanzen die Hände in der Disko ihre erotische Begegnung oder zeigen vergebliche Nähe im Bett zwischen den Kopfkissenattrappen. Da stürzen die Miniaturgeliebten durch Löcher im Kulissenboden in die tieferen Schichten des Vergessens. Eine faszinierende, verzaubernde Arbeit des belgischen Künstlerpaares, die das Publikum zu stehenden Ovationen bewegte.

Nach diesem Sommerfestival ist die Lust auf ein neues Konzept unter neuer Leitung eindeutig gestiegen.

Text: Birgit Schmalmack
Foto: Maarten van den Abeele

Hinterlassen Sie einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

*