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Spurensuche 12

12 VerSUCHE, dem Festival 2014 auf die SPUR zu kommen
Spurensuche 12

Auch die Kleins­ten bege­ben sich auf „Spuren­su­che“

Text: Tilla Lingenberg | Fotos: Margaux Weiß

1) Der Impuls, der mit der ersten „Spuren­su­che“ 1992 auf Kamp­na­gel gesetzt wurde, ist auch 2014 noch aktu­ell: Es ist ein Arbeits­tref­fen der freien deut­schen Kinder-und Jugend­thea­ter­szene. Ein Arbeits­tref­fen war das sehr kompakte fünf­tä­gige Festi­val 2014 im dies­jäh­ri­gen Gast­ge­ber­thea­ter, dem Fundus Thea­ter, auf jeden Fall. Sogar eine Maschine wurde von den Teil­neh­mern auf dem Innen­hof gebaut. Neben sieben Insze­nie­run­gen, die von den 145 Teil­neh­mern in nicht öffent­li­chen Gesprä­chen disku­tiert wurden, gab es drei Impuls­re­fe­rate und vier Werk­stät­ten – soweit, so bewährt im zwei­jäh­ri­gen „Spuren­su­che“ -Rhyth­mus. Doch jedes Mal probiert die Künst­le­ri­sche Leitung, bestehend aus ASSI­TEJ-Mitglie­dern, der ASSI­TEJ-Geschäfts­füh­re­rin Meike Fech­ner und dem einla­den­den Thea­ter, auch neue Elemente. Dieses Jahr, auf Initia­tive des Forschungs­thea­ters am Fundus Thea­ter, zum ersten Mal das Projekt „Chal­lenge“, sowie eine krea­tive Beglei­tung der Insze­nie­run­gen durch Schü­ler der Klas­sen 5 bis 10 der Euro­pa­schule Gymna­sium Hamm.

Jede „Spuren­su­che“ steht unter einem Motto, welches dieses Jahr, geprägt durch die Arbeit des Forschungs­thea­ters, „Alles nur erfun­den!“ lautete. Ein Leit­satz, der sogar als Anagramm: „Fundus real lernen“ stim­mig gewählt wurde.

2) Jede der sieben gezeig­ten Insze­nie­run­gen hat einen Paten, der sich für die Stück­wahl seiner Gruppe einsetzt. Pate kann werden, wer selbst zuvor schon einmal mit einer Insze­nie­rung auf einem „Spurensuche“-Festival zu sehen war. Hannah Bieder­mann von der Künst­le­ri­schen Leitung 2014 sagt: „Wir suchen Stücke aus, die eine neue Rich­tung aufzei­gen, in die es zukünf­tig gehen kann.“

Die Insze­nie­rung „Jo im roten Kleid“ vom Hambur­ger Thea­ter Trieb­werk über­zeugte seine Patin (Char­lotte Baum­gart von der Kompa­nie Kopf­stand) und das Publi­kum durch seine ganz eigene Form. Es wird die Geschichte eines Jungen erzählt, welcher sich traut, in einem roten Kleid aus dem Haus zu gehen. Uwe Schade und Heino Sell­horn, Schau­spie­ler und Musi­ker, finden eine stim­mige Umset­zung, die Geschichte zu erzäh­len, zu spie­len und mit eige­nen Kind­heits­er­in­ne­run­gen zu verknüp­fen. Ledig­lich die von der Gruppe ange­ge­bene Alters­an­gabe 10+ scheint zu jung gesetzt. Einstim­mig äußern sich auch die Kinder aus der Kriti­ker­gruppe zu diesem Punkt. Mindes­tens Zwölf­jäh­rige, eher noch ältere Kinder, meinen sie, soll­ten diese wunder­bare Insze­nie­rung von Nina Matten­klotz sehen. „Da aber an eini­gen Stel­len für kleine Kinder unge­eig­nete Wörter benutzt werden, sollte das Stück erst mit Kindern ab der Alters­gruppe Zwölf besucht werden“, schreibt zum Beispiel Çagla (10. Klasse).

Wasserbomben

Wasser­bom­ben helfen, das „gute Leben“ zu vermessen

3) Das Fundus Thea­ter mit seinem Forschungs­thea­ter-Team unter der Leitung von Sibylle Peters, Sylvia Deinert und Tine Krieg zeigt als Gast­ge­ber „Die Kinder­bank“ für Kinder von 8 bis 14 Jahren. Eine Auffüh­rung zum ehema­li­gen Forschungs­thea­ter-Projekt mit Kindern einer Hambur­ger Grund­schule. In der Perfor­mance wird diese Arbeit vorge­stellt und den zuschau­en­den Kindern die Arbeits­weise des Projekts mit krea­ti­ven, abwechs­lungs­rei­chen Mitteln präsen­tiert. Leider ist die Vorstel­lung nur eine geschäf­tige Verlän­ge­rung eines tollen Projek­tes, welche die jungen Zuschauer in der Kürze und Komple­xi­tät der Perfor­mance eher über­rollt, als dass sie animiert werden, selbst krea­tiv zu agie­ren. Natür­lich machen sie mit, aber in diesem engen (Zeit-)Rahmen nur genau nach den Vorga­ben der Erwach­se­nen. Schade.

Im aktu­el­len Projekt des Forschungs­thea­ters „Messen“, bei dem die Kinder wieder von Anfang an teil­ha­ben, Einfluss nehmen und sich einbrin­gen können, ist das Konzept Forschungs­thea­ter wieder voll stimmig.

4) „Ernesto Hase hat ein Loch in der Tasche“ vom Ensem­ble Mate­ri­al­thea­ter aus Stutt­gart bewegt, da mit dem schwe­ren Thema Armut und Obdach­lo­sig­keit ganz groß­ar­tig leicht und humor­voll umge­gan­gen wird. Mit einfa­chen, klaren Bildern, atmo­sphä­ri­scher Musik und Gesang erzählt, eine viel­leicht wenig auffäl­lige, aber hervor­ra­gende Auffüh­rung! Endlich klärt sich, warum ein Loch in der Tasche, auch mal rich­tig gut sein kann. Im Gespräch über diese Arbeit gerät Pate Stefan Ebeling (ciac­conna clox, Leip­zig) ins Schwär­men über die Quali­tät der Auffüh­rung, die seit sechs Jahren (zu Recht) im Reper­toire gespielt wird.

5) „Ein Body­bild“ ist einen Produk­tion des Thea­ter Marabu aus Bonn und des cobratheater.cobra aus Hamburg und Hildes­heim für Jugend­li­che ab 15 Jahren. Das beein­dru­ckende Solo der Perfor­me­rin Laura Schul­ler unter der Regie von Nach­wuchs­re­gis­seur Martin Grün­heit behan­delt die Themen Geschlecht und Körper- Iden­ti­tät, Körper-Wahr­neh­mung und Körper-Schau. Bin ich ich, wenn ich mich filme und dadurch meinen Körper von außen sehen kann, so wie andere mich von außen sehen? Oder bin ich ich, wenn mich welt­weit User im Netz in YouTube-Schmink-Tuto­ri­als sehen können? Entsteht so mein „Body­bild“? Oder fühle ich mich nur, wenn ich mich bis zur Über-Erschöp­fung drehe? Patin Hannah Bieder­mann (pulk fiktion, Köln) tritt vehe­ment für diese Produk­tion ein, da diese in ihrer Art der Umset­zung neu und kompro­miss­los sei und darum unbe­dingt einem Arbeits­tref­fen wie diesem gezeigt und disku­tiert werden müsse. Eine wich­tige Auffüh­rung mit viel Reibungs­flä­che. Und eine Auffüh­rung, so die Macher, die von den Lehrern nicht gut gebucht wird. Zu sper­rig? Zu heiß? Zu proble­ma­tisch? Thea­ter zum disku­tie­ren … eigent­lich ideal.

Mutige Prinzessin Glücklos

Ulrike Monecke als böse Hexe in „Mutige Prin­zes­sin Glücklos“

6) „Mutige Prin­zes­sin Glück­los“ – ein Märchen, groß­ar­tig gespielt von Ulrike Monecke vom Thea­ter Ozelot aus Berlin. Wunder­ba­res Kinder­mär­chen­thea­ter mit mini­ma­len Mitteln, heutig und humor­voll erzählt. Die Lösung des Problems der Prin­zes­sin mit ihrem bösen Schick­sal ist unge­wöhn­lich fried­lich und ziem­lich raffi­niert, findet nicht nur Patin Liane Günther der Vereins­Ei­ge­nen Bühne aus Chemnitz.

7) „Die Daniel Schnei­der Show“ des Thea­ter Mummpitz aus Nürn­berg greift das Thema Krieg in Afgha­ni­stan auf. In Afgha­ni­stan ist Dani­els großer Bruder, Soldat der Bundes­wehr, gefal­len und alle sind mit diesem Schick­sal über­for­dert. Schwie­ri­ges Thema, eigen­wil­lige Darbie­tung mit eher konven­tio­nel­len Kinder­thea­ter­mit­teln. Patin Susanne Frei­ling vom Thea­ter­haus Ensem­ble Frank­furt war über­zeugt vom aktu­el­len, poli­ti­schen Thema und der Entschei­dung, den Fokus im Stück immer auf die Perspek­tive des 12-jähri­gen Dani­els zu setzen. Auch diese Form bietet Stoff für eine Ausein­an­der­set­zung, entschei­dend für die Jury der „Spuren­su­che“, dieses Stück einzuladen.

8) „Trau Dich!“ der Kompa­nie Kopf­stand aus Berlin für Kinder von 8 bis 12 Jahren ist eine Auftrags­ar­beit der Bundes­zen­trale für gesund­heit­li­che Aufklä­rung zur Präven­tion des sexu­el­len Miss­brauchs. Ein wich­ti­ges und sensi­bles Thema, in dessen inten­si­ver Umset­zung gleich mehrere Geschich­ten inein­an­der verwo­ben auftau­chen. So sind sie besser auszu­hal­ten, denn jede Geschichte hat es in sich. Wie soll man zu Beispiel der Oma sagen, dass man sie mag, aber ihre Schlab­ber­küsse nicht? Was, wenn einem Jungen der Schwimm­trai­ner unter der Dusche zu nahe kommt? Wie falsche Geheim­nisse von echten unter­schei­den? Wann soll man mutig sein und Erwach­se­nen von solchen falschen Geheim­nis­sen erzählen?

Gefilmte Kinder kommen­tie­ren auf einer großen Hinter­grund­lein­wand zwischen­durch die Szenen und auch das Publi­kum darf Ideen zur Lösung beitra­gen. Jeder der vier jungen Schau­spie­ler Julia Bihl, Lisa Scheib­ner, Helge Gutbrod und Johan­nes Gott­wald (Regie: Annina Gior­dano-Roth und Chris­to­pher Gott­wald) stellt mehrere Perso­nen dar und alle spie­len Instru­mente, mit denen sie zwischen­durch immer wieder ganz schön abro­cken. Eine inter­es­sante Mischung von Thea­ter­for­men. Ingrid Ollrogge vom Thea­ter Hava­rie aus Pots­dam über­nahm gerne die Paten­schaft, auch wenn sie inhalt­lich manche Lösung einer Episode zu schnell, zu kampf­los herbei­ge­führt sah. Nur einer der Punkte, welcher zur Diskus­sion einlädt.

(Eine weitere Produk­tion des Thea­ter Strahl aus Berlin namens „Roses“ für die Ziel­gruppe 13+ wurde für die dies­jäh­rige „Spuren­su­che“ ausge­wählt, konnte jedoch aus tech­ni­schen Grün­den in Hamburg nicht gezeigt werden.)

9) Aktiv wurden die Spuren­su­cher in vier Werkstätten.

Werk­statt I: Die Gast­ge­ber luden zur Teil­habe an der „Gesell­schaft zur Erfin­dung von Mess­ver­fah­ren“ ein. Im Forschungs­thea­ter wurden die Arbeits­schritte und Ergeb­nisse der Messun­gen „zur Stei­ge­rung des Wohl­füh­lens“ mit Kindern der Euro­pa­schule Gymna­sium Hamm vorge­stellt. Anschlie­ßend wurden im Schul­ge­bäude aktiv und ganz prak­tisch Lampen einge­färbt, Duft­spen­der und „Fühl­leis­ten“ ange­bracht. An den folgen­den zwei Tagen konn­ten die Teil­neh­mer selbst Mess­the­men für sich finden und Mess­ver­fah­ren entwi­ckeln und ausprobieren.

Was-wäre-wenn-Maschine

Erste Vorbe­rei­tun­gen für den Bau der Was-wäre-wenn-Maschine

Werk­statt II baute drei Tage auf dem Hof unter Anlei­tung von Felix Jung und Marc Einsie­del von We Are Visual an einer „Was-wäre-wenn-Maschine“. Ein sich stän­dig erwei­tern­des, auf Ketten­re­ak­tio­nen basie­ren­des span­nen­des Gebilde, welches im Entste­hen bei Nicht­be­tei­lig­ten inter­es­sier­tes Unver­ständ­nis auslöste. Bei der Gene­ral­probe hakte es noch an drei Stel­len, was bekannt­lich für Thea­ter­leute ein gutes Zeichen ist, denn nichts ist unbe­lieb­ter, als eine reibungs­lose Generalprobe …

Werk­statt III unter dem Motto „Chal­lenge“ war eine der dies­jäh­ri­gen Neue­run­gen zur Förde­rung des Nach­wuch­ses im Kinder-und Jugend­thea­ter, wurde vom Gast­ge­ber­thea­ter initi­iert und vom Fonds Darstel­lende Künste geför­dert. Junge Künst­ler konn­ten zum Motto „Alles nur erfun­den!“ Skiz­zen für szeni­sche Kinder­thea­ter­pro­jekte einrei­chen. Drei Konzept­ideen wurden ausge­wählt: Lisa van Buren (Göttin­gen) mit „Wirr­wahr“, Ariane Schwarz und Hannes Michl (Heidel­berg) mit „Die E-Box“ und Laura Oppen­häu­ser und Tim Pfört­ner (Stutt­gart) mit dem Konzept „Animi­xer“. Ihre Ideen wurden in der Werk­statt zusam­men mit profes­sio­nel­len Kinder- und Jugend­thea­ter­ma­chern unter der Leitung von Amelie Mall­mann weiter­ent­wi­ckelt und bei der Abschlussprä­sen­ta­tion einzeln vorgestellt.

InWerk­statt IV – „Spoken Word“ – mit Guy Krneta, unter­stützt vom impro­vi­sie­ren­den Musi­ker Chris­tian Robin­son-Schütte, entstan­den aus verschie­de­nen Übun­gen Texte für ein kurz­wei­li­ges Programm, welches am Ende von ihren Autoren vorge­tra­gen wurde.

Landkarte zu "Ernesto Hase"

So sieht die Insze­nie­rung „Ernesto Hase hat ein Loch in der Tasche“ als Land­karte aus

10) Ein ganz wunder­ba­res Extra­pro­gramm haben die Schü­ler der Klas­sen 5 bis 10 der Euro­pa­schule Gymna­sium Hamm (zum Teil aus der dorti­gen Radio AG) bewäl­tigt. Und das zur Zufrie­den­heit und Bewun­de­rung aller. Die Kinder und Jugend­li­che kamen zu Wort und zu Stift, indem sie zu den Thea­ter­auf­füh­run­gen Kriti­ken schrie­ben, einen Radio­bei­trag zur „Daniel Schnei­der Show“ produ­zier­ten oder (Land-)Karten malten. Unter der Leitung von Sören Ingwer­sen (Jour­na­lis­ten­gruppe) und Doro­thee de Place (Karten­gruppe) entstan­den sehr diffe­ren­zierte Texte und groß­ar­tige Karten zu den Insze­nie­run­gen. Nach den Vorstel­lun­gen zogen sich die Grup­pen zum Mind-Mapping und zur Diskus­sion zurück. Anschlie­ßend entstan­den Texte bzw. Skiz­zen und schließ­lich Bilder mit ausführ­li­chen Legen­den. So inspi­rier­ten Thea­ter­kunst­werke entspre­chende Karten­kunst­werke als eine Art Reise­be­richt zu den Stücken. Ein groß­ar­ti­ges Feed­back-Format. Und, um hier erneut ein passen­des Anagramm des Mottos „Alles nur erfun­den!“ einzu­fü­gen: Die Bilder der Karten­gruppe „adeln unse­ren Flur“.

11) Es waren fünf inten­sive Tage: krea­tiv, streit­bar, konstruk­tiv, erfin­dungs­reich, kommu­ni­ka­tiv, bewegt und am Rande auch … ein biss­chen Fußball-WM. Und mit Morge­n­yoga: am ersten Tag 30 Matten und 15 Yogi, am zwei­ten Tag 20 Matten und 10 Yogi, am drit­ten Tag …?

Es war ein Tref­fen unter alten Bekann­ten und ganz neuen Gesich­tern (Prof. Dr. Chris­tel Hoff­mann beglei­tete sechs Stipen­dia­tin­nen.) Aber auch ein Tref­fen, bei dem die Genera­tio­nen wie in einer rich­ti­gen (Theater-)Familie aufein­an­der­prall­ten. Begriffe wie „Old School“ wehten manchem um die Ohren oder Sätze wie „Muss denn alles mit Video sein?“. Wer jedoch am vier­ten Abend das „Rück­spiel“ zu den Insze­nie­rungs­ge­sprä­chen sah, erkannte Humor als kolle­gia­len Nenner – oder war doch „alles nur erfunden?“

12) Die „Spuren­su­che 13“ findet in Köln statt. Denn man tau!

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