Kinder & Jugend / Kritik

Wie gut es ist zu vergessen

„Ernest oder wie man ihn vergisst“, deutschsprachige Erstaufführung, kirschkern & COMPES im Fundus Theater
Ernest Kirschkern

Marie-Louise (links, Sabine Dahlhaus) versteht nur Bahnhof, wenn Yvonne (Judith Compes) entrückt.

Wenn es doch nur nicht immer so stauben würde! Fein wie Sternenstaub rieselt es von oben auf Yvonne (Judith Compes) und Marie-Louise (Sabine Dahlhaus) herunter. „Ernest oder wie man ihn vergisst“ von Ahmed Madani (aus dem Französischen von Andreas Jandl) ist die Geschichte zweier alternder Zirkusartistinnen, die auf die Rückkehr von Direktor Ernest warten. In sentimentaler Erinnerung und in Hassliebe zueinander sind sie vereint. Regisseur Thomas Esser und den beiden Schauspielerinnen von kirschkern & COMPES ist eine zugleich tief berührende und am Ende heitere Inszenierung über die Vergänglichkeit gelungen. Der große Ernst, mit dem sie ihre Komik betreiben, und die Leichtigkeit ihres Spiels lassen uns über die Schwere großer Fragen lachen.

Wenn sie doch oben wären in der Zirkuskuppel, Miss Saltarella am Trapez und Mademoiselle Levitos hoch auf dem Seil. Dort staubt es nicht. Unten, da kämpfen Marie-Louise und Yvonne zwischen Kassenbude und Wäscheleine mit allen ihnen zur Verfügung stehenden Mitteln: gegen den Staub, gegen das Vergessen und gegeneinander. Wann kommt er nur zurück, Ernest? Und wen liebt er mehr? Doch Ernest kommt nicht mehr. Zu guter Letzt entscheiden sich die beiden für das Vergessen und damit für die Gegenwart.

Mit Worten, Hieben und Tricks piesackt sich das schrullige Artistinnenpaar gegenseitig. Sogar gefegt wird um die Wette. „Lass meinen Haufen in Ruhe!“ Aufgeben gilt nicht, niemals. Marie-Louise und Yvonne schauen abwechselnd so herrlich dämlich oder hundsgemein aus der Wäsche, dass es eine Pracht ist! „Du bist eine schlechte Verliererin!“ „Und du eine schlechte Gewinnerin!“ Und nochmals teilen sie aus. „Du vergisst alles!“ „Dich aber auch!“

Selbst die nächtlichen Träume machen die Artistinnen sich streitig. Und wenn sie gerade nicht aufeinander einhacken, reden sie aneinander vorbei, jede in ihre Erinnerungen versponnen. Besteht der Kitt, der sie zusammenhält, wirklich einzig aus dem flüchtigen Ernest, dem großen Zampano und dem vergangenen Ruhm? Nur in wenigen Momenten zeigt das Paar seine Zuneigung unverstellt: Wenn Marie-Louise die Erinnerungstropfen für Yvonne auf den Löffel zählt, wenn Marie-Louise der gefallenen Yvonne wieder auf die Beine hilft.

Kirschkern & COMPES gelingt jeder Tempo- und Stimmungswechsel mit traumhafter Präzision, eben noch in Rage tanzend, dann auf der Stuhllehne balancierend (Compes) und ganz still auf das Durcheinander im Kopf horchend (Dahlhaus). Wunderbar die Musik (Stefan Wiegand), die mal Drum ´n Bass, mal Swing, mal Herzschlag und mal Song, ganz unaufdringlich das Spiel der beiden begleitet oder antreibt. Schillerndes Kleinod auf der ohnehin in poetische Stimmung getauchten Bühne (Marcel Weinand): die gelegentlich im Hintergrund auftauchenden Videobilder in eigenwilliger Scherenschnitt-Stummfilmmanier (Patrick Gericke), die uns auf eine Sentimental Journey in die Zirkuskuppel mitnehmen. Und am Ende sind wir Erwachsenen mit den Kindern froh, dass alles irgendwie doch gut ausgeht – nicht ohne uns vorher noch einmal schlapp gelacht zu haben.

Angela Dietz

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