Angst vor großen Emotionen hatte keiner der Künstler, die ihre Arbeiten im Rahmen des 10-tägigen Festivals „Nordwind“ auf Kampnagel präsentierten. Das bewiesen die Filme, Konzerte, Choreographien und Theaterstücke, die die Kuratorin Ricarda Ciontos ausgewählt hatte.
Gleich fast fünf Stunden Achterbahn durch das Auf und Ab aller Erregungsstände bot der finnische Regisseur Kristian Smeds in seinen 12Karamosows. In seiner Umsetzung der Dostojewski-Vorlage gibt es statt der zwölf männlichen Karamasows sechs Schwestern und sechs Brüder. Der Roman dient hier lediglich als Pool der Anregungen. In einer Kulisse und mit Rüstungen aus Pappkartons werden seine Themen in einem szenischen Rockkonzert verarbeitet. Mit estnischen Schauspielstudenten hat Smeds ein energiegeladenes Stimmungsbild auf die Bühne der K1 auf Kampnagel gebracht, das sich Fragen nach Gut und Böse, Schuld und Verantwortung, Liebe und Hass widmet. Ein ständiger Atmosphärenwechsel ist Teil des Programms. Aggressiv aufgeladene Kampfszenen, die sich in punkigen Rocksongs mit schreiendem E-Gitarren-Sound austoben, kontrastieren mit beziehungsreichen Balladen, die von zarten Liebesgefühlen sprechen. Gerade aus dem Wechsel zwischen Frauen und Männern an den Instrumenten und den Mikros zieht die Truppe einen Energiegewinn, die für stetige Überraschungen sorgt. Die Zuschauer waren Teil der Aufführung. Sicher konnte sich keiner sein, nicht direkt in das Geschehen auf der Bühne hineingezogen zu werden. Wer wollte, durfte sich zwischendurch mit Wodka die Bedenken benebeln.
Die Dreiecks-Liebes-Beziehung zwischen einem Künstler, seiner Muse und der gemeinsamen Arbeit untersucht Alan Lucien Øyen in Avenidas Corrientes. Aus ihrem Apartment in Buenos Aires springen die beiden Darsteller von der riesigen Leinwand auf die Bühne, direkt in die fiktive Dokumentation der Liebe zwischen dem deutschen Choreographen Dieter Geier und seinem argentinischen Tänzer und männlicher Muse Augusto Garcia. Eine große Liebe wird hier gezeigt, die keiner beruflichen und privaten Auseinandersetzung aus dem Weg geht und die wie alle großen Liebesgeschichten mit dem Tod des einen enden muss. Das ist großes Kino. Das Zusammenspiel des viel Haut zeigenden Tänzers mit vollendet geschulten Bewegungen mit dem selbstkritischen, selbstreflexiven Künstler scheute auch vor Klischees in der schwulen Künstlerszene nicht zurück. Die Tanzeinlagen stellten aber ganz im Sinne Geiers vor allen Dingen die Schönheit von Augustos Körpers in den Mittelpunkt und blieben daher an der Oberfläche.
Begegnungen zwischen den Geschlechtern am Rande zwischen Stadt und Land, zwischen Dunkelheit und Licht; von diesen erzählt die Choreographin Ingun Bjørnsgaard mit Omega And The Deer aus Norwegen. Nie wurde die Stärke von Frauen so genau und gnadenlos analysiert. Gerade durch ihre unverdeckte Weiblichkeit spielen die Frauen in ihren transparenten, kurzen Kleidern eine Macht aus, die ohne physische Gewalt auskommt. Die Männer versuchen zwar immer wieder ihre Kraft zu demonstrieren, offenbaren aber gleichzeitig in ihrem Begehren eine Unsicherheit, die sie oft den Kürzeren ziehen lässt. Die Compagnie glänzte durch technische Perfektion in klassischem und modernem Tanz und erkundete auf dieser Basis neue Gefilde tänzerischer Innovation.
Die isländische Choreographin Erna Omarsdottir lässt in Teach us to outgrow our madness alles raus. Was wie eine Urschreitherapie anfängt, mündet bald in ein Headbanging-Event. Eine Sündenaustreibung, eine Aerobicstunde, ein Schminktreffen und eine Totenbeschwörung folgen. Kaum etwas an weiblichen Beziehungsstrukturen und deren emotionaler Äußerungsformen wird ausgelassen. Solidarität, Eifersucht, Aggression, Wut, Liebe, Schwesternschaft, Mutter-Kindbeziehung – all das zeigt die isländische Choreographin Erna Omarsdottir mit ihrer eigenen Compagnie. In enger Zusammenarbeitung mit den Musikern Dousselaere und Johannsson entstand so ein aufwühlendes Werk voller Überraschungen, das sich an keine zeitgenössische Tanzschule hält, sondern selbstbewusst mit den Stilen zwischen Performance und Ausdruckstanz spielt. Souverän wird hier Weiblichkeit in Szene gesetzt, die ohne Scham und in absichtsvoller Naivität mit überzeichneten Realitäten provoziert.
Die saubere Einsortierung in Sparten-Schubladen war den Nordwind-Künstlern zum Glück ziemlich egal. Ebenso wenig scheuten sie vor exzessiven Gefühlsbekundungen zurück. So widerlegten sie auf immer wieder überraschende Art das Klischee der wortkargen, gefühlsarmen Nordländer.
Text: Birgit Schmalmack
Foto: Smedsensemble