Kinder & Jugend / Kritik

Reise ins Nirgendwo

„Tschick“, Thalia Gaußstraße

Tschick (Nils Kahnwald) und Maik (Pascal Houdus), die beiden 14-Jährigen aus Wolfgang Herrndorfs preisgekröntem Roman „Tschick“, suchen einen Sommer lang das Glück im Nirgendwo namens Walachei und werden vielleicht dabei erwachsen – zumindest aber Freunde. Verloren, verträumt, dabei in jedem Moment energiegeladen, wirken sie in der Regie von Christopher Rüping (Bühnenfassung: Robert Koall). Aber irgendwie auch cool, und am coolsten oder besser – am toughsten – ist das Mädchen, das sie treffen: Isa (Franziska Hartmann). Sie nehmen alles um sich herum auf und sehen doch zuweilen durch ihre Glasglocken auf die Welt.

Jonathan Mertz‘ Bühnenraum am Thalia Theater Gaußstraße ist so hellgrau wie die Pubertät diffus, furchtbar und verheißungsvoll zugleich, die Wände durchscheinend: vage Aussichten auf ein Draußen, auf das Leben. Zeltplanen ähnlich, begrenzen die Wände den Raum und beziehen auch die Zuschauer in den Sitzreihen mit ein. Die begleiten die Premiere mit Dauergekicher und brechen am Ende der Vorstellung in Jubel und tosenden Applaus aus.

Ausgelassen sind sie, die drei Spieler, wie es nur Pubertierende sein können. Da werden die Motorengeräusche des Ladas mit Beatboxing simuliert. Der Wagen ist zwar nie zu sehen, spielt aber für den Verlauf der Geschichte eine große Rolle. Auch eine Frau, die sie treffen, wird rein stimmlich kenntlich gemacht; sie matschen mit Plastikblut herum, ballern vokalistisch auf den durchgeknallten Kriegsveteranen, der auf sie schießt und schließlich die angebrochene Limo mit ihnen teilt. Zu sehen ist all das nicht. Zu hören sind die Stimmen, die erzählenden, die manchmal ein langsameres Tempo vermissen lassen, einen leiseren Ton vielleicht.

Zu sehen ist das Kauern im Eimer, in der Schubkarre, das Nachdenken und Träumen in geschützter, eingerollter Haltung. Das Staunen über den Sternenhimmel und die seltsamen Menschen, die sie treffen. Die Wirrnis in den Gesichtern, die aufblitzende Verschlagenheit, „weißt‘ Bescheid, mein Vater hat einen dringenden Geschäftstermin …“ Isas wilder Tanz – Franziska Hartmann hat eine unglaubliche, kühle Power – und ihre Kühnheit, etwa wenn sie Maik beim Haareschneiden mit nacktem Oberkörper gegenübertritt, mit entblößten Brüsten, die die Zuschauer nicht sehen, gleichsam wie Maik, der so tut, als ob er nichts sieht. Im Unterschied zu den Jungen hat sie, das Mädchen von der Müllhalde, ein klares Ziel vor Augen: ihre Halbschwester, die irgendwo beim Fernsehen schon Geld verdient. Komisch sind Duo wie Dreigestirn, Maik, Tschick und Isa und tiefernst.

Zu sehen ist auch der Autounfall, das heißt, eigentlich nur das Kunstblut, das fließt, der Crash, der die traumhafte Freiheit von Tschick und Maik beendet. Tschick küsst Maik. Und Maik erzählt, wie er sich überlegt, ob er nicht schwul sein könnte, weil er Tschick so gern hat und so gern mit ihm zusammen ist. Leider nein.

Obwohl Kahnwald, Houdus und Hartmann nuancenreich spielen, in großer wie kleiner Geste agieren, mal impulsiv, dann wieder distanziert, fehlt einem in dieser Inszenierung im Unterschied zum Roman etwas. Nur was? Am Text liegt es nicht, der ist größtenteils mit dem Romantext identisch und deshalb mit der wunderbaren Sprache von Wolfgang Herrndorf. Ist es das Ende auf der Bühne, das einem mit seinen hochgehaltenen Stichworten des zukünftigen Lebens von Maik und Tschick etwas willkürlich angeklebt vorkommt? Der Wutausbruch von Maiks Mutter am Ende des Romans, bei dem sie die Einrichtung der Villa in den Pool schmeißt, fehlt gänzlich. Mit dieser Szene wird die damit einhergehende Annäherung von Sohn und Mutter ebenfalls ausgelassen. Vielleicht fehlt das Anrührende, das einen beim Lesen erfasst und auf der Bühne zwar vorhanden, aber deutlich weniger intensiv ist. Das Fehlen dieser Empfindung, des Auslösers dafür, verweist auf eine Grundsatzfrage: Soll ein Roman auf die Bühne?

„Roadmovie“, „moderne Tom-Sawyer-und-Huckleberry-Finn-Story“, schrieben die Kritiker nach Erscheinen des Romans 2010. Das Roadmovie mag es nahelegen, den Stoff filmisch umzusetzen. Aber sollte man? An literarische Erfolge anknüpfen zu wollen, ist legitim. Offenbar erreicht das Theater dabei auch ein mehrere Generationen umfassendes Publikum. Besser wird eine so tolle Geschichte dadurch nicht unbedingt.

Text: Angela Dietz

Hinterlassen Sie einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

*