Kritik / Schauspiel

Keine Euphorie

Rückblick auf das Hamburger Theaterfestival
Reinhard Werner

Ein Wendehals in Aktion: „Der Parasit“ vom Burgtheater Wien.

Das privat finanzierte Hamburger Theaterfestival ging 2011 in die dritte Runde. Die Kultursenatorin Barbara Kisseler lobte zur Eröffnung das große Engagement der Hamburger Bürgerschaft, das sie nach ihren Berliner Erfahrungen angenehm überrascht habe. Der Intendant Nicolaus Besch hatte auch 2012 wieder viele klangvolle Namen verpflichtet. Sie sorgten für durchweg gut besetzte Reihen in den großen Häusern des Thalia Theaters, des Schauspielhauses und auf Kampnagel. Doch um Hamburger Theatergänger zu beeindrucken, muss man einiges aufbieten. Was bekamen die Zuschauer also dieses Jahr geboten?
Wie der Mensch auf Kosten von Natur und Menschenleben seinen Gestaltungswillen durchsetzen will und sich bei der Formung der Natur überschätzt und überhebt, zeigte Karin Beier in ihrer Inszenierung dreier Texte von Elfriede Jelinek, die zur Eröffnung gezeigt wurde.

Im „Das Werk“ symbolisieren Wasserflaschen das Element Natur noch in kleiner, dosierbarer Form. Lustige Fontänen und Sprühnebel können damit erzeugt werden. Bis der Männerchor mit seinem Stampfen und Staccato den ausufernden Text von Jelinek in eine Sprachoper verwandelt, ist schon viel Text den Abend hinuntergeflossen.

Nach der Pause dreht Beier die Spannungsschraube zum Glück weiter an. Zunächst stürmt ein Karnevalsdreigestirn die Bühne und berichtet „Im Bus“ vom plötzlichen Einbruch eines Busses in den Münchener Asphalt. Beier hat Recht: In der Ingenieurshochburg Deutschland kann es sich dabei nur um einen Karnevalsscherz handeln.

Doch die nächste reale Berechnungsschlappe der Technikerkunst lässt nicht lange auf sich warten: Beim U-Bahn-Bau in der Kölner Altstadt hatte ein Wassereinbruch das Kölner Stadtarchiv zum Einsturz gebracht. Im „Sturz“ hat Beier die Textflut Jelineks konsequenterweise von den Schauspielern abgekoppelt. Aus Radios, Laptops und Lautsprechern bricht er scheinbar aus dem Nirgendwo über die Darsteller hernieder, während die Wasserfluten aus allen Rohren schießen.

In Hamburg begibt sich Beier mit ihrer Jelinek-Interpretation in eine harte Konkurrenzsituation: Das Niveau, das Nicolas Stemann mit seinen verspielten, ironischen und unterhaltsamen Interpretationen vorlegt, ist schwer zu toppen. Sie erreicht es nur teilweise. Während „Das Werk“ noch zu sehr von getragener Ernsthaftigkeit geprägt war, fand Beier erst „Im Bus“ und beim „Sturz“ zu dem spielerischen Umgang, der die mäandernden Textkreise Jelineks über längere Zeitstrecken erst erträglich macht.
In einer Adaption des Theaterstückes „Der Parasit“ von Louis-Benoit Picard deckt Schiller die Schwächen der menschlichen Art im Stile Molières auf. Regisseur Matthias Hartmann merkt man den Spaß an, es mit seinen punktgenau arbeitenden Darstellern des Wiener Burgtheaters zu einem Kabinettstückchen der dezenten Übertreibung zu machen. Besonders Michael Maertens darf in die Vollen greifen. Der personifizierte Wendehals windet sich schlangengleich um seine Vorgesetzen, um seine Ziele zu erreichen. Die Schleimspur, die er absondert, erzeugt zugleich Ekel und Bewunderung. Nach dem Schillerschen Happy-End hat Hartmann noch lange nicht genug: Noch zwei Mal wird die letzte Szene auf Anfang gedreht und jedes Mal erhält ein anderer das Amt und ein anderer die Schande. Eine zum Schenkelklopfen komische Komödie, die mit dem klaren Mut zum Boulevard menschliche Schwächen aufs Korn nimmt. Schade nur, dass dem Zuschauer beim späteren Sehen des „Platonow“ des Schauspielhauses Zürich, den Maertens auch darstellte, einiger seiner Gesten schon aus dem Parasiten bekannt vorkamen.

Zu den Totenglockenschlägen wird die nackte Frau am dicken Strick nach oben gezogen. Wie ein Stück Fleisch hängt sie bewegungslos herab. Später wird sie im Schattenwurf wie der gekreuzigte Jesus aussehen. Und am Ende wird es eine der fünf Schwestern aus „Bernarda Albas Haus“ sein, die sich in ihrem grünen Kleid erhängt hat und nun in den Bühnenhimmel gehoben wird. Sie wagte als einzige den Ausbruch aus dem züchtigen Regiment ihrer gestrengen Mutter (Nicole Heester), die den jungen Frauen jeden Männerkontakt untersagt hat. Vor der weißen Rückwand heben sich die schwarzen Stühle und die schwarzen züchtigen Gewänder der Frauen gut ab. Erst als die Wand vor der letzten Szene plötzlich zu Boden fällt, fallen auch die Fassaden. Die Frauen erscheinen in weißer Unterwäsche. Ihre jungen, voll entwickelten Körper bäumen sich unter ihren unterdrückten Lüste auf und gehen sich gegenseitig an den Kragen.

Regisseur Calixto Bieito enttarnt langsam und sensibel die erzwungenen Maskierungen der Frauen und lässt ihre Sehnsüchte und Begierden ungeschönt zu Tage treten. Auch wenn Andreas Kriegenburgs Inszenierung desselben Stoffes im selben Theater noch mit starken Bildern vor Augen steht, konnte Bieito ebenfalls mit psychologisch genauer Demaskierung punkten.

Die Bilanz kurz vor Ende des Theaterfestivals fällt dieses Jahr ernüchternder aus als in den vorhergehenden Jahren. Weniger Mut zu spannenden Akzenten zeigte dieses Programm. Dennoch sorgte dieser Durchlauf für Erkenntnisse: Lange Theaterabende, von denen es dieses Jahr außergewöhnlich viele gab, liefern nicht unbedingt mehr Theatererlebnisse. Einzelne Schauspieler mehrfach einzusetzen, führt mitunter zu unliebsamen Querwirkungen. Das Niveau der Hamburger Theaterszene des letzten Jahrzehnts setzt hohe Maßstäbe. So erfüllt das Festival 2011 auch eine wichtige Zusatzfunktion: Sie bewies den kritischen Hamburger Zuschauern, dass es um ihre hiesige Theaterlandschaft nicht so schlecht bestellt ist, wie sie zeitweise vermuten.

Text: Birgit Schmalmack
Foto: Klaus Lefebvre

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