Die Turnhalle steht seit je für den Ausnahmezustand. Hier wird trainiert, gestählt, geübt, dann auch experimentiert. Mitunter kommt es zu einer letzten Performance. Dann muss zuvor aber eine Katastrophe eingetreten sein, Sturmflut, Erdbeben, Flugzeugabsturz. In Christoph Marthalers subpolarem Basislager stirbt niemand.
Basislager sind Ausgangspunkte für Expeditionen, es gibt ein Ziel. Was könnte ein Ziel sein in einer Welt, die sich parallel zur globalen Erwärmung in Beliebigkeit aufzulösen droht? Falls es sich hierbei überhaupt um eine Drohung handelt, würde es vielleicht Sinn machen, darüber wenigstens das Theater nicht aufzugeben. Ein Versuch.
Die Versuchsanordnung sportlich, polar. Die Beziehungen leise, ohne Rücksicht auf Verständlichkeit. Als könnten sich die Menschen in der Not auch verstehen, wenn sie noch so unterschiedliche Sprachen sprächen. Das haben schon andere ohne Not probiert und sind gescheitert. Im subpolaren Basislager lässt man sich gegenseitig gewähren, geht Beziehungen ein, wo möglich. Als Ziel reicht erst einmal, da zu sein. Jeder für sich, im Raum gefangen ergibt sich Gemeinsames. Resonanzen. Im eigenen Körper, im Gegenüber. Wände klingen besprungen anders als Mobiltelefone, davongekickt mit der Eleganz eines Curlingspielers. Arien aus einem Tierkäfig anders als zum Singen gebrachte Gläser im Hinterzimmer. Eine stumme Rede anders als Schnarchen aus dem Lautsprecher. Grönländisch anders als Englisch, als Französisch, als Deutsch.
Es könnte einen übergeordneten Gedanken geben bei allem Experimentieren. Soviel Vertrauen sei gewagt. Die da methodisch genau ihre eigenen Versuchsanordnungen nachgehen, werden wissen, warum. Und wenn schon nicht warum, dann werden sie sich vielleicht wenigstens an ihre eigenen Methoden halten wollen. Wir folgen; auch dem Gesang, den Liedern, den Worten, versinken mit im reinen Klang der Silben, ohne Unterschied. Vielleicht ist das Leben eine Messe. Vielleicht stehen die Bewegungen der Menschen dafür, wie Zeit vergeht. Der Choral als Lebensweise.
Theater um Null herum hat aufgehört, Geschichten zu erzählen. Es geht um Atmosphären, Wiederholungen, Aushalten. Der Text – hauptsächlich Zitate, darunter neben Borges, Döblin und Korneliussen auch eine Passage aus George Steiners „Warum Denken traurig macht“. Macht es ja nicht, bei allem Hang zur Melancholie, es ist nur so schwer zu ertragen, nie zu wissen, was ein anderer denkt. Ob Gedanken Verschwendung sind oder nicht, tritt immer hinter dem Schock zurück, der eigenen Einsamkeit zu begegnen, auf sich geworfen zu sein. Selbst im Ensemble.
Der Direktflug von Grönland nach Hamburg dauert 3 Stunden 20. In den Stuhlreihen in k6 auf Kampnagel sitzt man so eng wie in einem Billigflieger. Dafür dauerte das Grönland-Experiment „±0“ nur 2 Stunden 30, und die Frage, wo man nach verkürzter Flugzeit landet, ließe sich mit einer Mutmaßung beantworten: vielleicht bei der Erkenntnis, dass das Leben wie das Theater immer nur so viel Poesie für uns bereit halten, wie wir selbst bereit sind, uns zuzugestehen.
Text: Stephanie Schiller
Foto: Anna Viebrock