Kritik / Schauspiel

Rot

Hamburger Kammerspiele
Text: Hans-Peter Kurr

Als Fritz Kortner 1968 am Deutschen Schauspielhaus mit Rolf Boysen „Clavigo“ inszenierte, brach an der Kirchenallee die Hölle los, denn beinahe hätte die Logistik des Hauses versagt. Und heraus kam? Ein Jahrhundertabend!

Ob im Jahr 2013 unter der Regie des genialen Briten Michael Bogdanov in den Hamburger Kammerspielen vor der Premiere von John Logans „Rot“ Ähnliches geschah, habe ich nicht recherchiert, weil Wichtigeres zu konstatieren ist: Mit Boysens Sohn Markus im Zentrum entstand ebenfalls ein Jahrhundertabend. Boysen junior in der Rolle (und vorzüglichen Maske von Biljana Ristic-Hippler) des Malers Mark Rothko sowie dem sehr begabten Nachwuchsdarsteller Jacob Matschenz in der Figur seines Adlatus Ken geriet der Premierenabend des bemerkenswerten Zweipersonen-Stücks zu einem unnachahmlichen Schauspieler-Fest.

Es beginnt damit, dass Boysen/Rothko bereits während des Einlasses auf der Bühne sitzt, meditierend in einem farbbefleckten Korbstuhl. Sogleich danach bricht ein edukatorisches Furioso los, die zweistündige Belehrungsarie eines egomanischen Lehrmeisters gegenüber einem scheinbar unbedarften Eleven der Malkunst und der Kunstgeschichte. Die allein schon sucht ihresgleichen, weil der Text – den Darsteller Boysen sich in enormer Massierung einspeisen musste – sich durch eine höchst ungewöhnliche Intelligenz und Durchleuchtung künstlerischer Zusammenhänge dank Autor Logan auszeichnet. Ferner missachten Bogdanov und Boysen (später auch der junge Matschenz in einer glänzend gearbeiteten monologischen Philippika gegen seinen Meister) rigoros und absichtsvoll bestehende Bühnengesetze. Zum Beispiel existiert für sie die „vierte Wand“ zum Zuschauerraum nicht mehr: Dort werden Rothkos Bilder in gewaltigen Ausmaßen projiziert, kommentiert und abqualifiziert.

Man mag fragen, was denn diese umständlichen, dialektisch basierten Dialoge mit der historischen Kunstwelt des beginnenden 20. Jahrhunderts zu tun haben? Eine – mögliche – Antwort findet sich, wenn man duldet, dass das Unvergleichliche in der dichten Realität liegt, in der Kühnheit, in menschliche Auseinandersetzungen immer wieder illusionsstörend einzugreifen, ohne den Sog von Verhängnis und Tragödie vergessen zu machen.

Bogdanov ist diese hohe Kunst – wieder einmal – gelungen, mithilfe der höchst ungewöhnlichen Potenz und Präsenz zweier Menschendarsteller, die begriffen haben, dass auf der Schauspielbühne in der Polychromie eines Meisterwerkes wie „Rot“ Theorie und Illustration wunderbar miteinander verwoben sind.

Hinterlassen Sie einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

*