Kritik / Schauspiel

Der Idiot

Deutsches Schauspielhaus
Text: Hans-Peter Kurr

Schauspieladaptionen großer epischer Literatur sind seit jeher ein Wagnis, dessen künstlerische Gefahren der Realisierung auf der Bühne sich allerdings durch eine Regisseurin wie Karin Henkel erheblich minimieren lassen. Das hat sie hier in Hamburg bereits bei der ersten Hälfte ihrer Inszenierung des Dostojewski-Romans „Schuld und Sühne“ (inzwischen mit dem bemerkenswert hohleren deutschen Titel „Verbrechen und Strafe“ versehen) im Malersaal gezeigt, wo sie sich – wegen der Umbaukatastrophen im Haupthaus – zunächst nur auf die erste Handlungshälfte unter der Firmierung „Schuld“ beschränken musste. (Das Gesamtwerk soll in der kommenden Spielzeit auf der Hauptbühne platziert werden.)

Ihre adaptive und inszenatorische Fähigkeit dokumentierte erneut am letzten Maitag noch eindrücklicher ihre Fassung des noch gewaltigeren Romans „Der Idiot“ des genialen, spielsüchtigen, trinkfesten russischen Epileptikers. Neben einer mit so hoher Imaginationskraft und szenischer Fantasie ausgestatteten Regisseurin bedarf es zweitens der unalltäglich hochkarätigen Schauspielercrew, die Karin Beier nach Hamburg geholt hat, und drittens der klugen, ja weisen Erkenntnis, dass in diesem Grenzen sprengenden Meisterwerk der epischen Literatur zeitgleich die Involution des Geistes in die Materie und die Evolution der Materie durch den Geist stattfinden, also Abstieg und Wiederaufstieg, Fall und Erlösung.

Nur wer verstanden hat, dass dies die wichtigsten Themata jener zwei Dostojewski-Romane sind, darf sich an deren Adaption für die Schauspielbühne wagen. Und dann ist der Bearbeiter noch immer nicht gefeit gegen die Gefahr, den breiten Strom der Handlungsfäden beim komplizierten Vorgang der Verlebendigung durch Schauspieler nicht ausreichend zu dokumentieren. Wie sonst wäre der geistig-charakterliche Fortschritt jener Minorität der Gesamtmenschheit zu erklären, die ein Leben „im Bewusstsein ihrer selbst“ zu führen versucht, als das Ergebnis der kaum in Dialoge zu fassenden Willensentscheidungen von Individuen, die den Begriff „Menschheit“ überhaupt erst ausmachen?

Henkel umgeht diese dramaturgische Gefahrenzone – wenn auch recht zeitintensiv – durch geschickten Einbau von phasenweisen Leseeinschüben aus dem Roman. Deshalb gilt auch hier dasselbe Votum, das ihr der Chronist bereits bei der Produktion „Schuld“ attestiert hat: Was die Kraft ihrer Wortmagie, das gebundene Pathos und die gesellschaftskritische Hymnik in Bezug auf die „Geworfenheit des Menschen“ (wie Sartre formuliert hat) angeht, erfüllt Henkels Inszenierung die höchsten Erwartungen!

Hinzu kommt, dass dieser soeben apostrophierte Zuschauer in sich selber nachgräbt und sich von jenem Anruf der menschlichen Mitschuld getroffen fühlt, dem Dostojewski in allen seinen Werken Stimme verleiht: Des Romanciers Idiot (der später in Gorkis „Nachtasyl“ seine literarische Fortsetzung in der Figur des Luka finden wird) ist hier weiblich besetzt und wird brillant gespielt von Lina Beckmann, die das Protagonistenensemble aus Charly Hübner (Rogoschin), Lena Schwarz (Nastassja), Yorck Dippe (Japantschin), Angela Richter (Lisawetta) und Markus John (Lebedjew) anführt.

Fazit: Viereinhalb Stunden Sprechtheater, dessen Besuch sich gemäß dem Zitat des großen Harry Buckwitz „Kommt ins Theater, dort könnt ihr etwas lernen, was ihr noch nicht versteht“ mehr als lohnt.

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