Kritik / Schauspiel

Frühlings Erwachen

Ernst Deutsch Theater

Fühlt sich mit seinen Problemen alleingelassen: Felix Oitzinger als Moritz

Text: Sören Ingwersen | Foto: Oliver Fantitsch

„Oh, ein Reclamheft!“ Was die sechs Jugendlichen bei ihrer Geburtstagsfeier in einem mit maroden Pergolen angedeuteten Garten am Boden entdecken, wirkt wie aus der Zeit gefallen. Vierzehnjährige, die nicht wissen, wie Kinder gemacht werden? So etwas gibt es heute nicht mehr. Daher sorgt Frank Wedekinds 1891 verfasster Dramentext „Frühlings Erwachen“ zunächst für Belustigung unter den Partygästen. Verblüffend schnell eignen sie sich in Anton Plevas Inszenierung des modernen Klassikers am Ernst Deutsch Theater dann aber die Rollen der jungen Menschen, ihrer Eltern und Lehrer an, um den (zeitlosen?) Konflikt zwischen dem starren Moralkodex der Erwachsenenwelt und der sexuellen Orientierungssuche der Heranwachsenden auszuleuchten. Das junge sechsköpfige Ensemble – die älteste Darstellerin ist 28 Jahr alt – zeigt sich dabei äußerst spielfreudig. Als wissbegierige Wendla wird Linda Stockfleth von ihrer bequemlich ignoranten Mutter (Alina Hidic) nicht aufgeklärt. Entsprechend überrascht nimmt sie ihre eigene Schwangerschaft zur Kenntnis, nachdem Schulkamerad Melchior (Maximilian Kurth) sie vergewaltigt hat und ihre Mutter keine andere Alternative sieht, als ihrer Tochter mit einem blutigen Eingriff von der Schande zu befreien.

Mit einem herrlich verrückten Monolog über die „Schamgesellschaft“ stolpert Ivo Masannek in der Rolle des Hännschen über die Drehbühne, während Ausstatter Timo von Kriegstein dem Lehrerkollegium, das über Melchior richten soll, rote Nasen und aufblasbare Keulen spendiert – für eine Clownsnummer, die den Witz leider in greller Überzeichnung erstickt. Immer wieder werden Handlungssequenzen ohne ersichtlichen Grund der Videoprojektion überantwortet, während Henrik Demcker das Spiel in Atmo-Klänge bettet und die Darsteller mit Wohlfühl-Indie-Pop wiederholt zum Singen und Tanzen animiert. Recht beliebig wirkt das alles und wenig auf einen Text vertrauend, dessen Bedeutung für die Gegenwart nur ein starkes Regiekonzept hervorheben kann. Beiläufige Verweise auf die Fridays-for-Future-Generation sind vor dem Hintergrund eines im Wilhelminischen Kaiserreich verwurzelten Moralkodex, den das Stück kritisiert, zu wenig.

Vor allem dem wunderbaren Felix Oitzinger gelingt es aber dennoch, seiner Figur eine erschütternde Tiefe zu verleihen. Während Denise Teises sexuell nicht zimperliche Ilse ihm geben will, wonach er sich so sehr sehnt – die erste libidinöse Erfahrung – zieht er sich verzweifelt grübelnd immer mehr in sich selbst zurück und gibt sich zuletzt die Kugel. Diese Sprachlosigkeit angesichts dessen, was ihn quält, ist es, die dann doch den Bogen in die Gegenwart schlägt. Denn trotz aller Aufgeklärtheit und medialen Freizügigkeit fühlen sich viele Jugendliche bei der Bewältigung ihrer eigenen Sexualität und hoher schulischer Anforderungen immer noch alleingelassen.

Weitere Aufführungen: 13., 15.–18., 21.–25., 27.–30.6., 1., 2., 4.–10.7., Ernst Deutsch Theater

Hinterlassen Sie einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

*