Text: Hans-Peter Kurr
Christoph Marthaler – seit den Tagen der künstlerischen Direktion von Harry Buckwitz am Zürcher Schauspielhaus hauptsächlich in seinem Schweizer Heimatland als Regie-Enfant-terrible gehandelt – wurde von Karin Beier mit sicherem Gespür für das Ungewöhnliche an die Elbe gelotst, um an der Kirchenallee die Uraufführung eines Schauspieles zu inszenieren, dessen Titel identisch ist mit der Überschrift der über 100 Jahre alten Dissertation des deutschen Philosophen Karl Jaspers. Und es entstand wieder einmal ein höchst ungewöhnliches, daher gewöhnungsbedürftiges Arbeitsergebnis – keineswegs ein Publikumserfolg.
Wir befinden uns, beispielweise in Ibsens Peer-Gynt-Irrenhaus unter der Leitung von Dr. Begriffenfeld oder – etwas heutiger, höflicher und sachlicher ausgedrückt – vielleicht in der Hamburgischen Nervenheilanstalt Ochsenzoll. Die hier gezeigte Collage, für deren schriftliche Fixierung Marthaler ebenfalls verantwortlich zeichnet, spielt allerdings realiter in einem Kinderheim des beginnenden 20. Jahrhunderts, in denen „heimatferne Kindermädchen gegen die ihnen anvertrauten Zöglinge gewalttätig wurden – fast immer mit tödlichen Folgen“.
Karl Jaspers, der geistige Schöpfer der wissenschaftlichen Psychopathologie, hat seine existenzialphilosophischen Erkenntnisse und Publikationen immer wieder mit Berufsverboten (z. B. unter der nationalsozialistischen Herrschaft im damaligen Deutschland) erkaufen müssen. Allein deshalb gebührt ihm ein Theaterdenkmal à la Marthaler, allerdings ist die szenische Stilistik dieses Abends, der sich mithilfe eines elfköpfigen Ensembles in dem Menschen erdrückenden gewaltigen Bühnenbild Anna Viebrocks (unter der ironischen Firmung „Mein Feld ist die Welt) abspielt – höflich gesagt – sehr schwer verständlich: Handlung gibt es nicht und gibt es wiederum schattenrissartig. Sie bleibt gleichsam offen, als seien wir in den Bereichen der nicht gegenständlichen Kunst. Was zählt, ist das totale Gewebe der Menschenschicksale, die hier in aneinandergereihten Monologen enthüllt werden. Dieses Gewebe setzt sich zusammen aus punktuellen Aussagen, aus einzelnen Formulierungen von außerordentlicher Bildkraft. Jedes Bild bedeutet eine Veränderung der Situation. Darin steckt die besondere Dramatik des 140-minütigen, pausenlosen, für die Zuhörer (zu schauen gibt es kaum etwas) hoch anstrengenden Abends, er ist sozusagen eine Suite dichter Visionen. Hin und wieder baut Marthaler dasjenige Stilmittel ein, das wir bereits seit Shakespeares Werken kennen, sogenannte Puns, im Fall des einfallsreichen Schweizers bestehen sie aus entspannenden Volksliedern, die das begabte Schauspielhausensemble unerwartet hochprofessionell chorisch und mehrstimmig interpretiert.
Fazit: Ein schwer verständlicher Abend, der allerdings wunderbar in Karin Beiers Innovationspläne passt.