Text: Hans-Peter Kurr
Wieder einmal: Karin Henkel, die in mancherlei Hinsicht Bewundernswerte! Wie sie Schauspieler zu verwandeln vermag, wie sie Stücke, deren Grundcharakter ein durchaus realistischer ist, in tiefenpsychologische Studien umformt, wie sie mithilfe ihrer Szenenbildner ein vom Autor konkret vorgeschriebenes Set optisch überhöht – das alles macht sie zu einer Szenenzauberin, wie sie anlässlich der Premiere des über 100 Jahre alten Ibsen-Dramas „John Gabriel Borkman“ im Deutschen Schauspielhaus wieder einmal dokumentieren konnte.
Das Ehepaar Borkman – er straffällig gewordener Bankdirektor und nach acht Gefängnisjahren zurückgekehrt in sein Wohnhaus; sie Mutter des einzigen Sohnes – wohnen bei Ibsen in zwei unterschiedlichen Etagen und haben einander seit fünf Jahren weder gesehen noch miteinander gesprochen. Bei Henkel und ihrer Bühnenbildnerin Kathrin Nottrodt besteht die riesige Spielfläche aus überhöhten Stufen, auf denen die Schauspieler auf und ab hetzen, wie es in den Haussen und Baissen des menschlichen Lebens auch geschieht. Alles gedeckelt durch einen Totalplafond, der das Ganze zu einem überdimensionalen Sarg aufquellen lässt. Die Unterschiedlichkeit der Etagen ist damit aufgehoben.
Ella, John Gabriels Dauerliebe, die zu heiraten er der besseren sozialen Stellung ihrer Schwester Gunhild wegen verschmähte, ist bei Henkel, ob dieses Unglücks, von einer schweren, körperlich sichtbaren Lähmung befallen, die – im heutigen schulmedizinischen Sinn an ALS-Diagnose erinnert (ALS = Amyotrophe Lateralsklerose, also unheilbarer Muskelschwund ). Lina Beckmann macht aus dieser bemitleidenswerten Figur, die – ersatzweise – einige Jahre den Borkman-Sohn Erhart (Jan-Peter Kampwirth) aufzog und ihn später – bei Karin Henkel – als ihren Liebhaber anlernte, eine Studie von hohem darstellerischem Wert. Ihre Zwillingsschwester Gunhild (erst am Ende als solche auch optisch erkennbar) charakterisiert Julia Wieninger als zutiefst leidgeprägten Menschen auf dem Niveau einer antiken Medea.
Der schwergewichtige Josef Ostendorf spielt den tragischen Helden – den wir vor erst drei Jahren mit Uwe Friedrichsen so erschütternd im Ernst Deutsch Theater erlebten – wie Ibsen ihn sich gewiss erträumte: Egomanisch auf seinem Willen zum Guten bestehend, ohne tiefere Einsicht, bis zu seinem geröchelten Todeskampf konsequent erfolglos. Eine glänzende schauspielerische Leistung.
Ein ungeheurer Druck lastet während des knapp zweistündigen Theaterabends auf Darstellern und Publikum, ein Druck privater Schicksalhaftigkeit, typisch für Ibsen’sche Dramatik. Frei nach dem chinesischen Sprichwort „Wo der Staub dick liegt, darfst Du nicht blasen“, lässt sich hier sagen: Wo der Schnee zum offenen Fenster hereinweht, darfst Du keine guten Gefühle erwarten. Und Dank Karin Henkels Inszenierungskunst treten sie hier überdeutlich zutage, die drei Charakteristika des großen Dramatikers Ibsen: Greifbarkeit seiner Thesen, Sinnlichkeit seiner Kunst, logische Motorik seines Denkens. Eine würdige Eröffnung der Spielzeit an der Kirchenallee.
Weitere Aufführungen: 26.9., 2.10., 8.10., 14.10. u. 31.10., jeweils 20 Uhr, Deutsches Schauspielhaus