Kinder & Jugend / Kritik

Neuland

Theater am Strom im Fundus Theater (Live-Stream-Premiere)

Viele Fragen in fremder Sprache: Nach seiner Flucht betritt Issam (Mudar Ramadan) Neuland

Theater am Strom: Neuland | Text: Angela Dietz, Foto: Andreas Schwarz

Wie spielt man etwas, das man nicht kennt? Krieg zum Beispiel, den hat hierzulande in jüngerer Vergangenheit niemand erleben müssen. Das Theater am Strom stellt sich dieser Herausforderung in seinem neuesten Stück „Neuland“ für Zuschauer ab 10 Jahren, indem es die Frage, was wie und von wem erzählt wird, in die Dramaturgie einarbeitet. Spielerisch erzählt wird die Flucht eines Kindes aus dem syrischen Krieg nach Deutschland, Issams Geschichte.

Für den geflüchteten syrischen Schauspieler Mudar Ramadan war Deutschland Neuland und für Gesche Groth sind Syrien und Kriegs- und Fluchterfahrungen Neuland. Gemeinsam erkunden sie den Fluchtweg eines Kindes. Schlaglichtartig werden die Stationen mal erzählt und mal gespielt.

Das Spiel auf der mit vier Scheinwerfern auf Stativen, zwei blauen Plastikkisten und einer Tonanlage von Marcel Weinand karg ausgestatteten Bühne, ist oftmals abstrahiert. Meer, Auto, Markt oder Grenzen sind nicht zu sehen und werden choreografisch durch Bewegung oder Geste angedeutet, dialogisch dargestellt oder erzählt.

Wie Gesche Groth und Mudar Ramadanihr ihr Thema mit Regisseurin Christiane Richers erarbeitet haben, Issams Fluchtgeschichte und Ankunft, das erläutern sie dem Publikum eingangs: „Wir haben viele Menschen befragt, Bücher gelesen, Fotos gesichtet und Filme gesehen.“ Alles sei wirklich, was sie zeigen, und alles andere ebenso wahr. Unversehens transportiert diese Information nicht nur das Was und Wie des Erzählens und Erzählten, sondern deutet auch den Unterschied zwischen Wirklichkeit und Wahrheit an. Wahrheit, die der Wirklichkeit eben bloß entspricht, aber deshalb noch lange keine Lüge ist.

Auf einer Autofahrt übt Issam mit seinem Vater, dem durch den Krieg arbeitslos gewordenen Englischlehrer, spielerisch Vokabeln. Aus Spiel wird Ernst. „I`m Issam from Aleppo, Syria. I am alone. My parents will come soon.“ Er erfährt, dass er ohne seine Eltern über die Türkei nach Deutschland fliehen soll.

In Aleppo riecht der ganze Suq, der Markt nach Seife, nach Sabun, der Lorbeer-Oliven-Seife. So erzählt man sich. Die Seife, hergestellt in jahrhundertealter Tradition, die als Motiv dazu dient, auf poetische Weise zu vermitteln, wie unterschiedlich wir die Welt sehen. Die Sabun wird herumgereicht. Ein und dieselbe Wahrnehmung lassen Gesche an einen Fernsehbericht über Aleppo denken und Mudar/Issam sehnsüchtig an den Suq und das Familienfrühstück am Freitag. Eine Zuschauerstimme (vom Fundus-Team) assoziiert „alte ranzige Damen“. Am Ende wird Issam sie als Geschenk seiner Pflegemutter in Hamburg überreichen.

Immer wieder reflektieren und unterbrechen Gesche und Mudar ihr Spiel,  wechseln die Perspektive: „Ich kann das nicht spielen, das musst du machen.“ Oder bemerken, dass sie es nicht spielen können und deshalb nicht spielen wollen. Am deutlichsten tritt das zutage, als es um das Kriegsgeschehen und die Furcht geht, während einer Bombardierung vielleicht. Mudar kann es nicht spielen. Gesche versucht es, kauert und windet sich auf dem Boden. Einen Moment später, als beim Zuschauen die Frage auftaucht, ob das so gespielt, nicht eigentlich unmöglich ist, bricht Gesche die Szene ab: So geht es nicht.

Issam schafft es schließlich trotz der lebensgefährlichen Flucht über das Meer nach Griechenland, ins berüchtigte Lager Moria, über tausende Kilometer und viele innereuropäische Grenzen, zu Fuß, mit dem Bus und dem Zug nach Hamburg. In seinem Neuland gibt es viel Wasser, in dem man nicht schwimmen darf, essen Menschen kein Fleisch und darf man die Enten, deren Fleisch man genießen könnte, nicht jagen.

Mit viel Gespür schafft das Theater am Strom es, die Schrecken und Gefahren der Flucht zu vermitteln, ohne emotional zu überfordern. Dafür reduzieren sie die Drastik der Darstellung, ohne die Schrecknisse zu verschweigen. Das Elend von Moria etwa wird in Stichworten per Handy übermittelt. Die Elektrosounds von Dieter Gostischa im Verbund mit Roberto Romano armenischer Flöte „Duduk“ und Kako Weiß’ Saxofon sind zurückhaltend und deutet die jeweilige Stimmung an.

Am Ende kommen die befragten Menschen zu Wort, von denen eingangs die Rede war. Per Ton-Einspieler sagen Kinder, die nach Deutschland geflohen sind, was sie sich wünschen: Doktor werden, Fußball bei St. Pauli spielen und dass alle Kinder viel Glück haben.

Weitere Aufführung im Frühjahr 2021 im Fundus Theater

Hinterlassen Sie einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

*