Text: Dagmar Ellen Fischer / Foto: Matthias Horn
„Ich bin zwanzig Leute auf einmal“, schrieb Virginia Woolf 1921 in ihr Tagebuch. Das Zitat eröffnet das Programmheft zur Premiere von „Orlando“. Nach dem Roman der berühmten britischen Autorin entstand am Schauspielhaus ein pausenloser 105-minütiger Abend in der Regie von Jossi Wieler.
Auf der Bühne reichen fünf „Leute“. Der mehrfach ausgezeichnete Regisseur Jahrgang 1951 – er blickt auf erfolgreiche Inszenierungen an bedeutenden Häusern zurück und ist längst Regielegende – entschied sich, weder den männlichen noch die weibliche Orlando als Person zu zeigen, stattdessen sprechen fünf Schauspielerinnen im Alter von Anfang 30 (Neuzugang Linn Reusse) bis Anfang 80 (Hildegard Schmahl) Auszüge des Romantexts. Es beginnt wie eine Leseprobe: Die Fünf setzen sich mit Getränken rampennah um einen Tisch und beginnen, abwechselnd zu deklamieren. Den offenen Bühnenraum dominiert eine liegende, riesige Kunsteiche, kurz vor dem wilden Wurzelwerk ist ihr Stamm sauber durchtrennt. An diesem Baum machen sich zwei weitere Leute zu schaffen: Sachiko Hara klopft dezent kleine (Moos-)Pflänzchen in den Stamm hinein, Lars Rudolph schraubt Zweige mit reichlich Blättern an kräftige Äste. Im letzten Viertel des Abends wird dieser Vorgang systematisch wieder rückgängig gemacht.
Stereotypes Spiel mit den Geschlechtern
Dieses Geschehen ist der aktionsreichste Anteil des Abends. Nicht, dass Aktionen grundsätzlich vonnöten wären – es gibt Monologe an der Rampe, die fesseln. Das gelingt dieser Inszenierung nicht. Es bleibt bei (teilweise auch noch schlecht) gesprochenen Sätzen, die weder Atmosphäre noch Spannung erzeugen können, geschweige denn irgendetwas (in den Köpfen des Publikums) entwickeln.Woolf erlaubt Orlando ein Leben, das vom 16. bis ins 20. Jahrhundert reicht, in England beginnt und endet, dazwischen im Orient angesiedelt ist. Das besondere: Orlando wird als Mann geboren, wacht jedoch eines Morgens als Frau auf und lebt fortan als äußerlich weibliches Wesen. Dass Körper und Kleidung nur wenig über die Identität eines Menschen aussagen, beschreibt Woolf in ihrem Roman wortgewandt und witzig. Ihr textimmanenter Humor geht jedoch auf dem Weg zur Bühne völlig verloren. Und die Verwandlung wird gespielt: Zwei Darstellerinnen greifen sich suchend von oben in die eigene Hose, ob denn das Geschlecht jetzt tatsächlich ein anderes sei, während Julia Wieninger über ihre Brüste streicht. Apropos Stereotype: Wieso erledigt ausgerecht der einzige männliche Darsteller die groben handwerklichen Arbeiten?
Hilfloser Versuch, im Hier und Jetzt zu landen
Virginia Woolf war eine Frau, die aus der Männerwelt vertrieben wurde. „Orlando“ ist eine fiktive Biografie, inspiriert von ihrer realen Geliebten Vita Sackville-West. Im Roman arbeitet sich die Autorin ab an den Konventionen, die in den durchlebten Jahrhunderten galten und gegen die Orlando stellvertretend rebelliert. Die Publikation erschien 1928. Im 21. Jahrhundert verschaffen sich Menschen zunehmend Gehör, die sich als non-binär outen, insofern passt Orlandos Thematik perfekt zu aktuellen Diskursen. Einen Beitrag dazu leistet das Stück allerdings nicht.
Im Gegenteil: Es langweilt. Wären da nicht hin und wieder kommentierte Kostümwechsel und vor allem Bettina Stuckys Vitalität, der Abend wäre schwerfälliger als das riesige Requisit. Der letzte Satz wirkt wie ein hilfloser Versuch, im Hier und Jetzt zu landen: Man schreibe den 26. Januar 2024, „es ist jetzt“.
Deutsches Schauspielhaus, 28.1., 4., 10., 28.2., 15., 27.3., 25.4., 27.5.