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Der gläserne Klang des Nichts

„Zeit“, Hamburger Kammerspiele
Zeit

Das Phänomen Zeit – und was davon übrig bleibt

Eine Schauspiel-Uraufführung mit dem Titel „Zeit“ fand auf der Bühne der Kammerspiele statt und dennoch geschah 105 Minuten lang – nichts. Zu beschreiben ist dieses Nichts schwer, es zu erleben war ein bemerkenswertes inneres Abenteuer, das eine Erinnerung hinterlässt wie der gläserne Klang vom Frost geröteter Blätter, die vom schwarzen Gerippe ansonsten nackter Baumäste herabrauschen.

Auf der durch zahlreiche Schals in viele Auftritts- und Abgangs-Gassen eingeteilten Bühne erscheinen links zunächst einzeln nacheinander fünf Schauspieler, gehen – zumindest in den ersten acht Minuten des Abends stumm – nach rechts und verschwinden wieder. Was der Zuschauer zunächst für einen „slowly running gag“ halten könnte, stellt sich später als das Stilmittel für die gesamte Vorstellungsdauer heraus. Hinzu kommt, allerdings nach langer Zeit: Sprache; aber auch die auf ungewöhnliche Weise: Jeder Darsteller hat eine Art Monolog zum Thema Zeit zur Verfügung, den er, bruchstückhaft in einzelne Sätze oder Satzfetzen aufgeteilt, bei jedem der bald unzählbaren Gänge von links nach rechts ins Publikum schleudert. Menschliche Begegnungen, die ebenfalls hier und da auf dem Weg dieser Individuen vom Jugendfrühling zum Tod stattfinden, scheitern zumeist am Phänomen der niemals ausreichend vorhandenen Zeit.

Zudem hat die Regisseurin Ingrid Lausund, die auch die Texte geschrieben hat, das Ganze für aufmerksame Zuschauer raffiniert inszeniert. Beispiele: Der Rucksack einer jungen Mutter wird von Auftritt zu Auftritt schwerer und größer, bis sie ihn kaum noch zu tragen vermag. Oder: Nachdem die Einzelnen offensichtlich ihre Lebenshöhepunkte überschritten haben – ohne das „Problem Zeit“ lösen zu können –, breitet sich Schwärze auf der Bühne aus, die schließlich nur noch von Fußrampen und einem Fünf-Kilowatt-Scheinwerfer ausgeleuchtet ist, so dass die Darsteller bei ihren sich zermürbend wiederholenden Gängen riesige Schatten auf die Schals werfen, assoziativ an Platons Höhlengleichnis erinnernd. Zudem wird der Zuschauer bereits nach wenigen Minuten zu erahnen vermögen, was sich im unsichtbaren Teil der Hinterbühne abspielen muss. Zuweilen treten Darsteller, die soeben erst rechts abgegangen sind, in atemberaubender Geschwindigkeit links wieder auf. Das muss sich etwa so abspielen wie diejenige Szene in der alten, schwarz-weißen „Raub der Sabinnerinen“-Verfilmung, die zeigt, wie als römische Legionärs-Statisten verkleidete Feuerwehrmänner in allerdings viel zu geringer Zahl einen schier endlosen Heereswurm darstellen sollen, indem sie hinter der Bühne im Sprintertempo von einer Seite zur anderen hetzen, um diesen Effekt zu erzielen. Kompliment an die fünf Schauspieler, die diese Art Marathon allabendlich über einhundertmal bewältigen müssen.

Fazit: Ein für Darsteller und Zuschauer gleichermaßen anstrengender Theaterabend, dessen merkwürdiger Untertitel hier noch verraten werden soll: „Die erschöpfte Schnecke wirft ihr Haus weg und flippt richtig aus“. Der Rest ist Schweigen …

Text: Hans-Peter Kurr
Foto: GODOT / Schiller

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