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Gut gebaut

"Der Bau", Hamburger Sprechwerk
Der Bau

Oben lauert die Gefahr! Joachim Bliese spielt Kafkas schreckhaften Erdbewohner.

Innerhalb des Fächers „Sommertheater in und um Hamburg“ entfaltete sich jetzt eine künstlerische Sensation in einer stillen Ecke der Hansestadt, die im Übrigen weitgehend vom Lärm der Großveranstaltungen wie blau erleuchteter Hafen oder wahnwitzige Radrennen bei 40-Grad-Temperaturen beherrscht wird: Der große Joachim Bliese spielt das Monodram „Der Bau“, ein Lebenszeit-End-Werk des genialen Franz Kafka in der Fassung von Jürg Amann, der vor Jahren die Buckwitz-Ära als dessen Dramaturg am Schauspielhaus Zürich mitgestaltete.

Als hätte der viel beschäftigte Schauspieler Bliese nicht genug zu tun, realisierte er im Sprechwerk – bei der B-Premiere leider nur vor sieben zahlenden Zuschauern – den lange gehegten Plan, diese Uraufführung in Hamburg zu präsentieren, mit der intelligenten Regisseurin Konstanze Ullmer, ehemals Blieses Schülerin.

„Gingest Du über eine Ebene“, schreibt Kafka in den „Zürauer Aphorismen“, „hättest den guten Willen, zu gehen und machtest doch Rückschritte, dann wäre es eine verzweifelte Sache: da Du aber einen steilen Anhang hinaufkletterst, so steil etwa, wie Du selbst von unten gesehen bist, können die Rückschritte auch nur durch die Bodenbeschaffenheit verursacht sein, und Du mußt nicht verzweifeln!“

In einer diesem Traum analogen Situation befindet sich der vom Autor offenbar weitgehend autobiographisch gemeinte Architekt des Baus, ein Zauderer par excellence und ein merkwürdiges Wesen zwischen Tier und Mensch, das sich zum Schutz gegen jedwede Feindseligkeit eine unterirdische Höhlenanlage errichtet hat, die es bei Bedarf durch eine moosbepflanzte Erdklappe verlassen kann, um aber sofort die dringende Sehnsucht zu verspüren, wieder zurückzukehren in jenen Bau, in dem es tagelang schlafen, sich von rohem, blutigen Fleisch ernähren und alle übrigen Bedürfnisse – außer denen des Schutzes (wovor auch immer?) – negieren kann.

Kafkas unvollendet gebliebenes Werk „Der Bau“, von dessen Freund und Testamentsverweser Max Brod posthum herausgegeben, hat der Bearbeiter Jürg Amann aufgrund seiner reichen Kenntnis schauspielerischer Bedürfnisse und Notwendigkeiten in eine Form gebracht, „die sich sprechen und spielen lässt“. Und Bliese tut das, im Rahmen der ihn sorgfältig unterstützenden Regie Ullmers, mit Leidenschaft, Energie, Ausdauer und offensichtlich im Verlauf des Abends wachsender Freude. Sein Gestus, den er speziell für diese Figur entwickelt hat (und der häufig an Kafkas eigene Zeichnungen seines Hungerkünstlers erinnert!) kann nur exemplarisch genannt werden; sein scheinbar unbegrenztes, von metallisch bis lyrisch reichendes Stimmvolumen macht das neunzigminütige Zuhören zu einem reinen ästhetischen und intellektuellen Vergnügen.

Und plötzlich geschieht jenes Wunder, dessen Erhellung nur einem großen Schauspieler gelingen kann: Der auf den ersten Blick oder bei Erstlektüre absurd erscheinende Text wird transparent und überdeutlich klar. Er erleuchtet unnachsichtig Kafkas bereits zwei Jahre vor der Entstehung dieses Werkes verfasste Tagebuchnotiz von 1921: „Unentrinnbare Verpflichtung zur Selbstbeobachtung: Werde ich von jemandem anderen beobachtet, muss ich mich natürlich auch beobachten, werde ich von niemandem sonst beobachtet, muss ich mich umso genauer beobachten.“ Ein künstlerisch sensationeller Abend.

Text: Hans-Peter Kurr
Foto: Stefan Malzkorn

„Der Bau“: 22. u. 23. 8. sowie 11., 12. u. 13.9., jeweils 20 Uhr, Hamburger Sprechwerk

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