Text: Hans-Peter Kurr | Foto: Kerstin Schomburg
Der Beifall war stark, anhaltend, jubelnd. Auch an zuweilen unverständlichen Lachern fehlte es nicht: zum Beispiel, wenn Kreon sich ohne Not selber den Habitus eines Krüppels aneignet. Die Rede ist von der Schauspielhauspremiere eines der bedeutendsten Bühnenwerke, das in der Theaterliteratur existiert, dem „Ödipus“ des Sophokles. Aber auch das trifft nur begrenzt zu. Genau genommen hat Regisseurin Alice Buddeberg eine Art Patchwork-Ödipus zusammengestrickt.
Nicht ohne Reiz, das Ganze, aber das Verstehvermögen manches Zuhörers, der nicht in der antiken Mythologie beheimatet ist, gewiss überschätzend. Buddeberg allerdings scheint es darauf angelegt zu habe, die Geschichte des Ödipus bis zum wirklichen Ende zu berichten. Und das funktioniert bei Sophokles nur, wenn man – wie es in der griechischen Antike an drei Tagen geschah – die gesamte Trilogie (Rex, Kolonos und Antigone) auf die Bühne stemmt oder, wie an der Kirchenallee 2012, einen Flickenteppich aus Sophokles, Aischylos, Euripides und schließlich noch des Beinahezeitgenossen Henri Ghéon zusammennäht.
So beginnt hier alles mit dem zweiten Sophokles-Teil, der Ankunft des bereits Geblendeten vor Athen, der im nahe gelegenen Hain von Kolonos seinen Frieden finden soll. Aber die satten, eingebildeten Bürger Athens wollen den armen Wanderer nicht aufnehmen. Einen Chor von beeindruckend wundersamer Optik hat das Team hier geschaffen (das schwierige chorische Sprechen allerdings könnte präziser sein, noch schlimmer wird es, wenn diese Crew später ihre Hasstiraden gegen alles Fremde, Ungewohnte, Kranke aus dem Off – scheinbar ungeschult – auf die Bühne schreit, als hätte kein Mitglied dieser Gruppe jemals Sprechtechnik gelernt!).
Da die Regisseurin gleich zu Beginn in den zweiten Teil springt, fängt alles mit einem schier endlosen Bekennermonolog des Ödipus, des geblendeten exilierten Königs von Theben an. Dann erst – wie eine Rückblende – dürfen wir in den Anfang der Geschichte schauen, in der Ödipus das pestverseuchte Theben zu retten versucht, indem er Rache für den gewaltsamen Tod seines Vorgängers (realiter also seines Vaters) schwört, des Sehers Teiresias’ Anschuldigung, er selber sei der Schuldige, anhören muss, Kreon in die Verbannung jagt, die zwei Hirten empfängt, die ihm die wahren Hintergründe seiner Tragödie entschleiern.
Jokaste – Mutter, Ehefrau, Gebärerin, Tragödin – ist Irene Kugler. Sie gestaltet die verteufelt schwere Rolle, die niemals einen Lichtstrahl von außen bekommt und immer beschäftigt ist mit ihrem eigenen Ernst, ahnungsvoll in der Erkenntnis der Katastrophe, stimmtief wie Medea und eindringlich scheiternd in dem Versuch, eine heile Welt zu erhalten und schließlich nicht, wie bei Sophokles vorgesehen, sich am Türrahmen erhängend, sondern sich in einem Wassereimer ersäufend: meilenweit entfernt von Komik, die herrliche Leistung einer großen Darstellerin!
Alles andere – trotz der im Schauspielhaus ja sattsam bekannten Hochqualität der Darsteller – ist Schementheater, füllt Leere, füllt die Schablone der Handlung immer neu auf dem „Spielfeld“, das hier im Bühnenbild mehr Abgründe aufweist als Standflächen. Die Figuren (auch die Söhne Eteokles und Polyneikes, die sich gegenseitig morden, und Antigone erscheinen noch, dafür fehlen Ismene und Theseus, der König Athens, der den Greis im Original zu seinem Grab geleitet) stehen und spielen wie Standbilder, einmal sprechen sie Kunst, dann aber wieder menschlich mit den Zungen unserer Zeit. Allen voran Markus John in der Titelrolle, er klagt fast zwei Stunden lang Elend, Pest, Grausamkeit, Götterwillkür, Verwüstung, Hoffart, Krankheit, Leid und Tod.
Wo in der würdevoll adäquaten Textfassung des Walter Jens’, die zum Glück weiten Strecken zugrunde liegt, Noblesse und Adel des Ausdrucks herrschen, wird hier dramaturgisch kühn mit dem Dialog umgegangen, der folgerichtig an den Rändern aufweicht.
Insgesamt ein zwar reichlich verwirrender, aber auch abenteuerlicher Abend.
Super 8)