Text: Birgit Schmalmack | Fotos: Arno Declair (oben), Matthias Horn (unten)
Es begann ganz schlicht: Die Schauspielerin Johanna Wokalek hatte aus Marcelle Sauvageots autobiographischem Briefroman „Fast ganz die Deine“ für die Auftaktveranstaltung des diesjährigen Theaterfestivals zusammen mit dem Merlin Ensemble Wien eine musikalische Lesung gemacht. Sie sitzt dabei barfüßig vor dem noch geschlossenen Schauspielhausvorhang auf dem Flügel und lässt tief in die Frauenseele blicken, während die Musiker immer wieder die Klänge der Wiener Walzerseligkeit mit Werken von Sibelius, Brahms und Messiaen gekonnt brechen. Eine stimmungsvolle Einführung auf die folgenden Theaterabende.
Ingmar Bergmans legendären Film „Herbstsonate“ hat Regisseur Jan Bosse für die Bühne umgearbeitet. Dank seiner beiden Hauptdarstellerinnen gelingt ihm ein eigener Zugriff. Fritzi Haberlandt ist die spätpubertierende Tochter, die sich in die Auseinandersetzung mit ihrer übergroßen Mutter stürzt, um endlich ihren Frieden zu finden. Corinna Harfouch dagegen leidet hauptsächlich an sich selbst. Ihre Empathie hat enge Grenzen. Das Leid der anderen kann sie nur durch die Folie ihres eigenen Unglücks sehen. Während ihre Tochter die Beständigkeit und die Auseinandersetzung sucht, ist für sie die Flucht in die Ferne immer eine Option. Bosse zeigt das Pfarrhaus als Spukschloss, in dem die Gespenster der Vergangenheit, der verdrängten und unterdrückten Sehnsüchte, Schmerzen und Begierden erwachen und herumspuken. Das Spinnennetz der gegenseitigen Verstrickung aus Schuld, Vorwürfen und Erwartungen wird im Tau der Nacht sichtbar. Ein starkes Gastspiel des Deutschen Theaters!
Die junge Regisseurin Lydia Steier hat in der Koproduktion der Kammerakademie Potsdam und des Hans Otto Theaters mit „Jephta“ eine moderne Händel-Opern-Interpretation erschaffen, die den überaus pädagogischen, mit viel aufklärerischem Impetus versehenen Stoff nicht nur räumlich, sondern auch emotional und inhaltlich mitten unter das Publikum bringt. Auf zwei Tribünen sitzt es rechts und links von der lang gestreckten Stufenbühne. Wie verführbar Massen sind, erfährt das Publikum auch durch die gefühlvolle Interpretation der bewegenden Händelmusik unter Konrad Junghänel.
Steiers Leistung liegt nicht nur darin, die Oper durch ihre Rahmensetzung mit einem Schauspieler als Professor (Christian Ballhaus), der seinen Schülern eine Lektion fürs Leben erteilen will, in eine für heutige Zeit spielbare Form gebracht zu haben, sondern auch darin, die Figuren einer intensiven, psychologischen Feinanalyse unterzogen zu haben. Jephta wird in all seinem Hin- und Hergerissensein gezeigt. Die Liebe zu seiner Tochter, die es ihm unmöglich macht, sie zu töten, seine Opferbereitschaft und sein tiefes Ehrgefühl stehen beharrlich im Widerspruch. Hier hat sich eine junge Regisseurin in aller Konsequenz auf einen antiquiert scheinenden Stoff eingelassen und ihm zu neuem Glanz verholfen.
Regisseurin Barbara Frey gibt auf der Drehbühne (Bühne: Bettina Meyer) Einblick in die sonnendurchflutete Selbstmitleidshöhle der „Drei Schwestern“ in ihrer Inszenierung am Schauspielhauses Zürich. Sie zeigt Dank der offenen Räume ein Haus, in dem es keine Rückzugsräume für die individuelle Entwicklung gibt. Die Personen können sich durch ihre Lebenszeit von den zufällig hereinschneienden Besuchern, den alles kontrollierenden Angehörigen und alltäglichen Katastrophen treiben lassen. Schon diese Alltagsbewältigung frisst alle Energien. Am Schluss hängen alle ermattet vom eigenen Schicksal auf der Terrasse herum und konstatieren nur noch müde und ohne jede Hoffnung: „Leben müssen.“ Das Leben und das Schicksal gilt es hinzunehmen. Eine Haltung, die von einem gläubigen Katholiken stammen könnte, doch hier fehlt selbst die Hoffnung auf eine Entschädigung im Jenseits.
Die grandiosen Schauspieler vom Schauspielhaus Zürich machen den dreistündigen Abend der absurd komischen Melancholieausbreitung zu einem Highlight der Schauspielkunst. Besonders den drei Hauptdarstellerinnen Olga, Mascha und Irina (Sylvie Rohrer, Dagna Litzenberg Vinet, Friederike Wagner) schaut man bei ihrer psychologisch nuancierten Suhlerei im Opfersein bewundernd zu.
Auf den Holzwellen des Bühnenbodens versuchen die Menschen im Auf und Ab der Zugehörigkeiten und der damit verbundenen Ungewissheiten, nicht den Halt unter den Füßen zu verlieren. Die Welt ist in „Nathan der Weise“ streng entlang der Religionszugehörigkeiten aufgeteilt. Die Gefahr, plötzlich als zur verkehrten Gruppe dazugehörig erklärt zu werden, schwebt ständig über allen. Als der Sultan „Wahrheit“ von Nathan einfordert, muss dieser mit einer List rechnen und greift auf seine berühmte Ringparabel zurück. August Zirner ist das Zentrum dieser Aufführung. Als in sich ruhender, sympathischer und intelligenter Nathan stellt er die einzig verlässliche Größe zur Orientierung dar. Regisseur Christian Stückl vom Münchner Volkstheater erzählt den Klassiker als spannende, lebensnahe, hochemotionale Geschichte. Eine sehenswerte Aufführung.
Wer denkt noch an Romeo und Julia, nachdem er Ferdinand und Luise als Liebespaar in „Kabale und Liebe“ vom Schauspielhaus Bochum unter der Regie von Anselm Weber auf der Bühne gesehen hat? Ihre Liebe scheint tatsächlich den Tod überwinden zu können.
Weber verlässt sich ganz auf den Text Schillers und seine hervorragenden Schauspieler. Die Bühnenräume sind nur mit weißer Farbe auf den schwarzen Bühnenboden gesprayt. Besonders die beiden Hauptdarsteller (Friederike Becht, Nils Kreutinger) überzeugen mit ihrem differenzierten Spiel, das zwischen jugendlicher Leidenschaft, stürmischem Aufbegehren gegen die Verhältnisse, hochmoralischem Verantwortungsbewusstsein und tiefer Trauer schwankt. Die kaltschnäuzige, Menschen verachtende Kabale der Herrschenden macht das zu Herzen gehende Drama der zerstörten Liebe des Paares sehr berührend. Eine schlichte, texttreue und -genaue Inszenierung, die einen passenden Schluss unter das diesjährige Theaterfestival setzte.
Es zeigte auch dieses Jahr wieder handwerklich gute, dezent aktualisierte, klug in Szene gesetzte Klassiker, die auf jede Provokationen verzichteten. Die Regie trat in den Hintergrund zugunsten der bewährten Stoffe und der oft namhaften Schauspieler. Intendant Nikolaus Besch blieb also auch dieses Jahr seiner bewährten Handschrift treu. Doch ausgerechnet das Stück „Jephta“, mit dem er ungewohnte Pfade betrat, wurde zum Publikumsliebling. Vielleicht sollte Besch seinem Hamburger Publikum ruhig etwas mehr Neugier zutrauen.