Text: Birgit Schmalmack / Foto: Daniel Seiffert
Die Begegnung mit dem Fremden stand im Programm der diesjährigen Lessingtage im Vordergrund. Dabei konnte das Eigene im Anderen entdeckt oder das Fremde in all seiner Andersartigkeit auf der Bühne ausgestellt werden. Viel Düsteres und Deprimierendes war zu sehen, nicht unpassend in einer Zeit, in der viele Menschen ihre Heimatländer verlassen müssen, weil Krieg und Hunger sie zur Flucht in ferne Regionen treiben.
„NO43 Abschaum“ vom Teater NO99 aus Tallinn zeigt eine Endzeit-Vision, in der die Menschen nichts mehr zu verlieren haben, aber trotz aller Ausweglosigkeit um ein Weiterleben kämpfen. In einem Schlammterrarium stecken die Neun fest. Tapfer versuchen sie, gegen das Abrutschen anzukämpfen. Aufrecht stampfen sie voller Energie in einem gemeinsamen Rhythmus, bis die Klumpen gegen die Fensterscheiben spritzen. Das Stück zeigt sie in den verschiedenen Stadien der Erkenntnis. Gewaltexzesse folgen auf Machtspiele mit wechselnden Fronten.
Auch die Thalia-Produktion „Früchte des Zorn“ von Luk Perceval zeigte eine Personengruppe, die in einer hoffnungslosen Lage festsitzt, und dass obwohl sie sich auf einen beschwerlichen, zweitausend Kilometer langen Weg gemacht hat. Doch im Erfolg versprechenden Kalifornien wird ihre Armut, vor der sie aus der „Staubschüssel“ der USA fliehen wollten, noch durch Ausgrenzung und Diskriminierung verstärkt. Während bei „Abschaum“ der kampfbereite Überlebenswille noch für Dynamik sorgte, ist die Herbststimmung der leeren Bühne bei Perceval durchgehend in einförmiges, schleppendes, braunes Moll getaucht.
Wie viel Antigone steckt in mir? Diese Frage stellten sich die neun Syrerinnen in „Antigone of Shatila“. Nach und nach tritt eine von ihnen aus der langen Stuhlreihe an eines der Mikrofone und erzählt ihren jeweiligen Teil der Geschichte. Schwach fühlen sie sich angesichts der Umstände, die sie so hilflos machen. Gestrandet sind die Syrerinnen im libanesischen Lager Shatila, das hauptsächlich von palästinensischen Flüchtlingen bewohnt wird. Auch hier sind sie das schwächste Glied; als Neuankömmlinge haben sie sich in der Hierarchie des Lagers ganz unten einzuordnen. Die Regie von Mohammad al-Attar und Omar Abusaada bleibt im Hintergrund und gibt den Frauen den Raum für ihre Sicht. Die zeigen kaum Emotionen, sondern begegnen den Herausforderungen ihres Lebens sehr gefasst. Diese Zurückhaltung beeindruckt und distanziert zugleich. Diese Frauen wollen nicht anrühren, sondern interessieren.
Sieben heruntergekommene Hütten stehen in „300el x 50el x 30el“ um einen kleinen Dorfplatz, der meist leer bleibt. Kommunikation gibt es dort nicht, alles geschieht wortlos. Zu eingespielt sind die Rituale. Selbst für Sex gibt es einen verabredeten Zeitpunkt: Als die Erkennungsmelodie ertönt, springen alle Paare aufeinander los. In den Hütten, in die nur die Kamera Einblick gewährt, herrscht das alltägliche Grauen. Hinter der Fassade der Dorfidylle findet der Sündenfall statt. Das Theaterkollektiv FC Bergmann spielt in seiner Inszenierung mit so unterschiedlichen Stilen wie Slapstick, Horror, Bergman-Film-Atmosphäre und Anspielung auf Historiengemälde und vereinigt sie zu einer Performance, die zu ungläubigem Kopfschütteln, blankem Entsetzen, beklemmender Beunruhigung, unfreiwilligem Lachen und irritiertem Nachdenken herausfordert. Ein Abend, der zwar keine Begeisterung hervorruft, aber kaum jemanden unberührt gehen lässt.
Welchen Mechanismen unterliegen Massenbewegungen? Das untersucht der chinesische Autor Nick Yu Rong Jun in seinem Stück „Die Masse“, das als Gastspiel der Shanghai Dramatic Arts aufgeführt wurde. 40 Jahre chinesischer Geschichte bieten reichlich Stoff für Strukturanalysen zum Thema Massenbewegungen und ihre Auswirkungen auf den Einzelnen. Regisseur Tang Wai Kit lässt seine Schauspieler zwischen leidenschaftlichem Pathos und distanziertem Berichten ständig hin und her wechseln. Wie im Lehrtheater der Tradition Bertolt Brechts lässt er zu keiner Zeit die Illusion zu, dem tatsächlichen Schicksal der Personen beizuwohnen. Die Darsteller spielen stets eine Rolle. Ein inhaltlich und formal anspruchsvoller Abend, der in Deutschland Erinnerungen an frühere Regie-Zeiten hochkommen lässt.
Die Inszenierungen, die sich dem offenen Diskurs auch mit provokativen Äußerungen stellten, waren dieses Jahr in der Minderzahl. Das Bemühen um politische Korrektheit und kulturelle Ausgewogenheit war in etlichen Arbeiten spürbar.
Ein Stück wie Shakespeares „Der Kaufmann von Venedig“, das antisemitisches Gedankengut zu bedienen scheint, ist nach dem Holocaust nur schwer zu inszenieren. Das weiß auch Nicolas Stemann. Also hat er für seine Inszenierung an den Münchner Kammerspielen Shakespeares Text eher als Grundlage für eine Spiel- und Experimentiervorlage denn für ein Drama genommen. Nichts lässt Stemann als Reflexionsrahmen aus: Die Käuflichkeit der Menschen, die möglichen komödiantischen Aspekte des Dramas, Anspielungen auf Nazi-Ideologien, Unterdrückung von Minderheiten, patriarchale Machtstrukturen, versteckter Rassismus und die Zumutungen des Kapitalismus – alles wird durchgespielt, nichts ist echt. Das ist als intellektuelle Herangehensweise an einen heiklen Text beeindruckend, aber ist so sinnlich wie ein Seminar, das sich in jedem Moment um politische Unangreifbarkeit bemüht.
Die weiße Constanza Macras wollte die Unterdrückung der Schwarzen durch die Weißen in ihrer Produktion „On Fire“, die in Johannesburg zusammen mit südafrikanischen Tänzern entstand, angemessen behandeln. Leider gerät der Abend so zu einer überaus korrekten, aber zumindest für deutsche Zuschauer beliebig wirkenden Show, statt zu einem enervierenden, berührenden und spannenden Tanzerlebnis. Macras redet von etwas, das sie nicht so gut kennt. Sie versucht sich mit Humor und Selbstironie aus der Affäre zu ziehen, dennoch gelingt das keineswegs so gut, wie bei Themen, die ihre eigenen sind. Ganz anders zwei Produktionen, die es wagen, politisches Theater zu machen.
Stefan will alles richtig machen. In seiner Funktion als Lehrer in seinem Neuköllner Deutschkurs bemüht er sich stets händeringend um political correctness und kommt so stetig ins Stottern. Mit seinen Schülern ist „The Situation“ des Nahen Ostens mitten im Berliner Integrationskurs angekommen, und Stefan rauft sich die Haare, um bis zur nächsten Stunde eine Lösung für den Nahostkonflikt zu finden. Denn in seinem Kurs treffen Palästinenser, Israelis und Syrer aufeinander. So artet eine Übung zu den W-Fragen bereits zu einem politischen Streit aus. Regisseurin Yael Ronen ist eine Meisterin der pointierten, mit leichter Hand inszenierten Abende, die geschickt mit Klischees und Vorteilen spielen. Mit sicherem Gespür und einem Humor, der die Auseinandersetzung mit dem Ernsten erst möglich macht, hat sie wieder einmal einen Abend inszeniert, der ohne jeden Anflug von pädagogischem Zeigefinger daherkommt und bei dem man dennoch jede Menge lernen kann. Das ist große Kunst. Sie gelingt auch deswegen, weil Ronen stets die richtigen Leute für die Bühne findet, die ihre Geschichten souverän erzählen, ganz authentisch wirken und dennoch weit über sich selbst hinausweisen können. Das ist Theater, das keine Frage scheut.
Dazu gehört auch „Mitleid“ von der Berliner Schaubühne. Regisseur Milo Rau hat für dieses beeindruckende Stück hunderte von Interviews mit NGOs geführt und ihre Berichte zu einer Erzählung in einer einzigen NGO verdichtet. Die blonde Frau (Ursina Lardi) steht an einem Vortragspult mitten zwischen Müllbergen und berichtet von ihrem NGO-Einsatz im Kongo vor über zwanzig Jahren. Als neunzehnjährige naive Lehramtsstudentin hatte sie sich von den „Teachers in conflict“ anwerben lassen, war völlig unvorbereitet nach Goma aufgebrochen und mitten in den aufbrechenden Konflikt zwischen Hutu und Tutsis geraten.
Rau zeigt, wie naive Gutmenschen wie diese Frau eine ganze Helferindustrie am Laufen halten, damit jedoch eher die Ohnmacht der Flüchtlinge verstärken und sich ihre eigene Überlegenheit bestätigen. Rau stellt viele bohrende und unangenehme Fragen. Wer leidet mit? Kann es Hilfe ohne Mitleid geben? Kann ein Mitleidender helfen? Dass die Vielschichtigkeit dieser Arbeit in allen Aspekten zur Geltung kommt, lag auch an der grandiosen Leistung von Ursina Lardi.
Von solchen mutigen Produktionen hätte das diesjährige Festival mehr vertragen können. So gab es zwar 2016 viele Möglichkeiten zur Betrachtung des Fremden und Verstörenden, aber weniger Diskussionsanregungen zum politischen und gesellschaftlichen Dialog als in den vergangenen Jahren. Die Inszenierungen hatten weniger direkten Aufforderungscharakter. So durfte man als Zuschauer eher in der Betrachterrolle verharren und fühlte sich seltener genötigt, die eines aktiv gestaltenden Bürgers einzunehmen.