Highlight / Kritik / Schauspiel

Ohne Schere im Kopf

Lessingtage 2012, Thalia Theater
Lessingtage 2012

„Die WildeWeiteWeltSchau“ von und mit Rainald Grebe, Gastspiel vom Centraltheater Leipzig

Der letzte Programmpunkt der diesjährigen zweiwöchigen Lessingtage war zugleich ihr Höhepunkt: „Made in Paradise“ von Yan Duyvendak, Omar Ghayatt und Nicole Borgeat führte exemplarisch vor, wie Blicke über den kulturellen Tellerrand zu einem Mehrgewinn an Erkenntnissen führen können. In ihren fünf Fragmenten, die sich das jeweilige Publikum des Abends aus einem Angebot von zwölf Szenen in offener Wahl aussuchen kann, legen sie gängige Vorurteile bloß, zeigen Möglichkeiten der Begegnung, geben Einblicke in andere Lebenswelten, spiegeln eigene und Klischees der Zuschauer und plädieren unaufgeregt für Toleranz und Respekt. Immer gehen sie dabei von ihrer eigenen Begegnung zwischen einem atheistischen, homosexuellen Europäer und einem muslimischen, gläubigen Ägypter aus. Diese Einladung in eine fremde Kultur mündete auf dem Boden sitzend bei heißem Pfefferminztee in einen angeregten Austausch der Meinungen.

Andere Programmpunkte waren auf dem Wege zur Lessingschen Völkerverständigung eher verzichtbar wie die „WildeWeiteWeltSchau“. Die quietschbunte „KabarettKulturKlamaukSchau“ stellte nur Klischees auf der Bühne aus. Ob die eingespielten Videos aus You Tube, Skype oder eigenen Aufnahmen gespeist wurden, spielte dabei kaum eine Rolle. Da zeigen sorbische Volkstrachtengruppen ihr Liedgut. Leipzigerinnen geben ihre Vorstellung von indischem Tanz, Südsee-Hüftschwung, afrikanischem Tanz und orientalischem Bauchtanz zum Besten. Dauerknipsende Japaner, geschäftstüchtige Schweizer, streitende Grönländer – immer werden vor quietschbunter Pappkulisse die Standardvorstellungen abgespult. Das Leipziger Ensemble des Centraltheaters ist in dem zweistündigen Spektakel im Dauereinsatz, so wie der oberflächlich reisende Tourist. Das Konzept erschien allerdings schlüssiger als die Umsetzung. Ein dümmlicher flacher Witz jagte den nächsten. Nur wenn Initiator Rainald Grebe selbst auf der Bühne war, schimmerte das Quantum Ironie mit durch, das den Abend erst erträglich macht. So lachte vornehmlich Grebes Fangemeinde beim Gastspiel in Hamburg.

Für das Tanztheater „Berlin elsewhere“ von Constanza Macras lieferten Texte von Foucault den theoretischen Rahmen. Die Ensemblemitglieder von DorkyPark erzählten vielsprachig zwischen drei Schaumstoffhochhäusern von den unterschiedlichen Erscheinungsformen des Wahnsinns in Großstädten. Sie berichteten von Lebenskonzepten, die in Unverständnis aufeinander treffen, und von Segregationsbestrebungen, die Fremdes an den Rand drängen wollen, bis hin zu den heutigen Internierungsformen der Gated Communities. Nur selten fanden sich die Tänzer zu kurzen Ensembleszenen zusammen, die an die kraftvollen, energiegeladenen Tanzeruptionen vom letztjährigen „Megalopolis“ erinnerten. So fehlte dieser Arbeit die verbindende große Idee und sie zersplitterte in eine zwar gut beobachtete, aber fast beliebige Aneinanderreihung der Skurrilitäten, die sich in heutigen Großstädten finden lassen.

Bei dem Gastspiel der Münchner Kammerspiele „Three kingdoms“ kam Aufklärung im Sinne Lessings zu kurz. Dafür blieben die Ermittlungen und Erkenntnisse im Krimithriller von Simon Stephen zu sehr an der detektivischen Oberfläche. Die Ermittlungen bei einem Mordfall weisen ins Prostituierten- und Pornomileu, führen zunächst von London nach Deutschland und dann weiter nach Estland. Der Text erfordert eine Inszenierung in drei verschiedenen Sprachen. Übertitel stellen für die Zuschauer die durchgehende Verständigung sicher. Doch nicht für die Personen auf der Bühne. Das stürzt den ermittelnden Inspektor in eine nie gekannte Einsamkeit, wirft ihn ganz auf seinen Instinkt zurück und beraubt ihn seiner sonst gewohnten Sicherheit.

Regisseur Nübling bemüht sich die Handlung in einen Nebel der Zwielichtigkeiten zu hüllen. So legte er über den eher nervenkitzelnden als gesellschaftskritischen Stoff eine weitere Ebene der Gefühle und Gedanken. Ohne sie wäre der Abend zwar spannend aber nach der Aufklärung des Krimifalles abgehakt gewesen. So aber gären wenigstens die Bilder des Abends noch nach.

Gewohnte Muster des Zuschauens und des Angeschautwerdens werden von der Brüsseler Company „Ultima Vez“ von Wim Vandekeybus in „Radical Wrong“ in Frage gestellt. Keiner der Zuschauer darf sich sicher fühlen, dass er nicht plötzlich im Rampenlicht steht. Die erzählten Episoden, die mit aller Radikalität gegen gewohnte Normen und Regeln angehen, sind von höchster Energiedichte. In den Ensemble-Choreographien werden Elemente aus Kampfsportarten, Akrobatik, Breakdance und Modern Dance zu einer innovativen, anregungsreichen Tanzform verbunden. Da springen sich die Tänzer an, rollen sich auf den Körpern der anderen in der Luft ab, kicken in die Luft, halten sich in der Schwebe und finden zu immer neuen, sich bewegenden Körperskulpturen.

J.M. Coetzee hat einen großen Roman über Scham, Schuld, Rache, Vergebung und Vergangenheit geschrieben: „In Ongenade“ (zu Deutsch: „Schande“). Angesiedelt im Südafrika der Postapartheid stellt er einen möglichen Ausgleich zwischen Weiß und Schwarz zur Diskussion. Wenn eine niederländische Theatertruppe diesen Stoff unter der Regie des Belgiers Luk Perceval inszeniert, wird er zudem in den Rahmen der kolonialen Aufarbeitung gestellt. Perceval gelingt eine subtile, sensible Umsetzung des Romans auf der Bühne. Die 80 schwarzen Schaufensterpuppen symbolisieren die Gemeinschaft der Schwarzen, unter denen die Weißen die zahlenmäßige Minderheit darstellen. Das war ein Theaterabend, der mit wenigen Mitteln eine unglaubliche Wirkung erzielte und auch deshalb so spannend war, weil er die Fragen nach Gut und Böse gekonnt in der Schwebe hielt.

Eine Sprechoper mit drei Instrumentalisten und einem Vokalisten über die Lebensgeschichte des kubanischen Sklaven und Revolutionär „El Cimarron“ war ein weiterer Programmpunkt, der Sicht- und Hörgewohnheiten in Frage stellte. Die atonale Komposition von Hans Werner Henze wurde von dem Ensemble Modern und dem Sänger Holger Frank so uneitel und unprätentiös dargeboten, dass das Publikum sie mit lang anhaltendem Applaus honorierte.

Der angekündigte Skandal anlässlich des „Golgota Picnics“ blieb in Hamburg aus. Das Hamburger Publikum nahm die gesellschafts- und religionskritischen Text- und Bilderfluten Rodrigo Garcías gelassen hin.

Würde die Musik Haydns einem Chaos aus Burgern, Melonen, Dreck, Wasser, Farbe, Schmiere, Gel, Kleidung, Bildern und Worten standhalten? Der Regisseur wagt das Experiment. Nachdem er einen Müllhaufen der Zivilisation im Laufe der ersten eineinhalb Stunden auf der Bühne angerichtet hat, in dem sich die sechs Darsteller nackt auf dem Burgerteppich gesuhlt haben, streift sich auch der MacDonalds-Mitarbeiter die Kleidung vom Leibe, setzt sich als Pianist ans Klavier und spielt Haydns Oratorium „Die sieben letzten Worte unseres Erlösers am Kreuze“. Doch in die letzten Klänge donnern die Fallgeräusche des „Gefallenen Engels“ in die gerade entspannten Ohren der Zuschauer. Auf der großen Leinwand ist zu sehen, wie Luzifer in Jesus-Catsuit aus dem Himmel auf die Erde stürzt. Kein Fallschirm bremst den freien Fall der im Konsum ertrinkenden Gesellschaft.

Die Lessingtage 2012 boten ein breit gefächertes, spartenübergreifendes Programm, das in seiner Vielfalt den üblichen Rahmen eines Staatstheaters erfreulich erweiterte. Der Mut der Festivalleiterinnen Johanna Bauer, Sandra Küpper und Sabina Dhein, ohne Schere im Kopf an die Programmauswahl heranzugehen, hat sich gelohnt.

Text: Birgit Schmalmack
Foto: Rolf Arnold/Centraltheater

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