Manchmal, ganz selten, möchte man im Theater gewesen sein und hinterher nicht darüber schreiben sollen. Einfach nur dort gewesen sein. Und vielleicht noch einmal hingehen. Luk Percevals Tschechow’scher „Kirschgarten“ hatte jetzt am Thalia Theater Premiere.
In einer Reihe sitzen sie, parallel zur Bühnenkante, wie im Wartesaal, an einer Tafel ohne Tafel, eine Familie beim letzten Abendmahl. Sie sitzen und schweigen; minutenlang. Ganz langsam tauchen in den Gesten ihrer Gesichter Erinnerungen auf, Spiegelungen unausgesprochener Innenwelten, kleine Bewegungen, bis einer die Stille bricht und sagt: „Unvorstellbar.“ Luk Percevals Inszenierung von Tschechows „Kirschgarten“ beginnt entschleunigt in einem Raum voller Vollmonde, die den nächtlichen Himmel über den Figuren in ein sanftes Lichtermeer verwandeln (Bühne: Kathrin Brack). Doch die Aufreihung der Figuren schafft eine Klarheit, die täuscht. Nichts ist klar. Etwas abseits, wie eine, die befragt werden soll, sitzt Andrejewna Ranjewskaja. Die Gutsbesitzerin ist zurück. Wiedersehen, mehr noch Abschied.
In der Rahmenhandlung, die sich Anton Tschechow ein halbes Jahr vor seinem Tod ausdachte, kommt Gutsbesitzerin Andrejewna Ranjewskaja nach einigen Jahren im Ausland nach Hause zurück und ist hoch verschuldet. Haus und Kirschgarten, Sinnbild identitätsstiftender Familiengeschichte, müssen verkauft werden. Während die Versteigerung läuft, tut die Familie, was Familie in Ausnahmesituationen meist tut: trösten, beschwichtigen, streiten. Aber diese Familie greift – anders als es Familie meist tut – in ihr Schicksal nicht ein. Am Ende ist der Kirschgarten verloren. Nun gehört er dem zum Unternehmer aufgestiegenen Enkel eines ehemaligen Leibeigenen, der seinen Triumph über den eigenen Stammbaum feiert, als hätte er damit auch gleich einen Sieg über alle Klassenungerechtigkeiten errungen. Vielleicht ist es auch einfach nur ein Gefühl von Rache, gestillter Rache, die den, der gerade noch wenigstens den Gedanken an Rache hatte, nun entleert zurücklässt. Er wird den Kirschgarten fällen lassen und mit Bio-Diesel-Raps noch mehr Geld verdienen, als er ohnehin schon hat. Vielleicht ahnt er, dass er damit nichts verändert hat an den Verhältnissen. Ein Rollentausch, mehr nicht. Wirklich feiern tun die anderen.
Ankunft und Abschied, Schönheit und Verfall, Erinnern und Vergessen – Luk Perceval erzählt die Geschichte einer Frau, die in den Widersprüchen ihres Lebens spazieren geht, dabei spielerisch zwischen Gelassenheit und Anklage wechselt, zwischen Debilität und Leidenschaft. Barbara Nüsse brilliert als morbide Andrejewna Ranjewskaja, spielt die Alte mit so viel eigensinnigem Witz, stattet sie empfindsam mit den Zügen ihrer dementen Großmutter aus (sehenswert der hiervon erzählende Film von Marat Burnashev, zu finden unter www.thalia-theater.de), während Tschechows Andrejewna mit ihren Gedanken Schleifen durch die Zeit dreht, aus Wiederholungen auftaucht und in Wiederholungen unter. Sie verunsichert und tröstet, verliert sich in der Geschichte ihres Lebens, fällt in sich zusammen, streckt sich gegen jeden Anflug von Trauer und dem Augenblick entgegen. Wenn sie geht, wie eine geht, die wohl nicht mehr lange gehen wird, will man sie stützen, während sie im nächsten Moment mit Firs (Alexander Simon als furios-gefühlvoller Eintänzer), dem jungen Freund an ihrer Seite, über die Bühne tanzt, als habe sich die Zeit, nur um dies noch einmal zu erleben, selbst zurückgedreht.
Die Familie harrt aus. Sie verlieren alles und sind dabei gut gelaunt. Vielleicht hätte Andrejewnas Bruder Leonid Gajew (Wolf-Dieter Sprenger wunderbar lethargisch-naiv) den Verkauf des Kirschgartens noch verhindern können, aber auch er zieht es vor, die Dinge in ihrem Lauf nicht zu behindern – und bleibt zu Hause. Während sich zwischen den einen heftige Diskussionen um das Verhältnis von Ökonomie und Freiheit entspinnen – „Konsum ist keine Freiheit, aber werden Sie mal ein Baum!“ –, entdecken andere ihre Einsamkeit wieder, holen Eheprobleme hervor, flirten oder weinen. Mal ist jeder nur mit sich selbst beschäftigt, mal kommt es zu Zuneigungen, dann wieder kippt die Stimmung, unvorbereitet, es wird gelacht, geschrieen, geküsst. Das Leben – ein Tanz, getragen von der Musik (und Lutz Krajenski an der Hammondorgel). Das Leben – eine Komödie. Am Ende gehen die leichten Herzens, die nichts mehr haben. Vielleicht ahnen sie, dass Schönheit nur ist, weil sie vergänglich ist. Und dass das auch für Kirschgärten gilt.
In weiteren Rollen Oda Thormeyer (Warja), Cathérine Seifert (Anja), Tilo Werner (Jermolaj Lopachin, der Kaufmann), Sebastian Rudolf (Student), Rafael Stachowiak (Kontorist), Matthias Leja (Jascha) und Oana Solomon (Dunjascha).
Text: Stephanie Schiller
Foto: GODOT/Schiller