In der Stunde, in der die ersten Schatten das Ende des Tages ankündigen, fragen wir uns unwillkürlich nach dem Sinn des Lebens oder wir spüren eine seltsame, unbestimmte, schmerzliche Empfindung, wie den Hauch eines Todesflügels, der uns streift. Neuropathologen sprechen in diesem Zusammenhang von der „Neunzehnuhr-Angst“.
Meine Neunzehnuhr-Angst in nunmehr über 40 Theaterjahren als Regisseur, Dramaturg und Schauspieler war Widerwille, Abscheu, machtlose Auflehnung, als verlöre angesichts des „finsteren und dummen Abgrunds“, wie Montaigne diesen Zustand nennt, meine gesamte künstlerische Arbeit ihren Wert angesichts der im öffentlichen Bewusstsein – und vor allem in demjenigen der sogenannten „öffentlichen Hände“ – kontinuierlich absinkenden Achtung der gesellschaftspolitisch so wichtigen kulturellen Integration eines gesunden demokratischen Systems. In allen diesen Jahren war aber die Traurigkeit nicht ohne Wonne, war Ergebung und bereitwillige gläubige Bejahung unseres gemeinsamen Künstlerschicksals.
Dieses eminent wichtige Thema „Sterben der Kultur, speziell des Theaters, im gesellschaftlichen Raum einer (noch) lebensfähigen Demokratie“, hat die junge, begabte Autorin und Regisseurin Iris Matzen nun im Auftrag des Kölner Theaters Der Keller, eines seit Jahrzehnten wichtigen, risikofreudigen Privattheaters in der Domstadt, zu Papier und auf die Bühne gebracht.
Die lokale Presse jubelte. Zu Recht, wie auch wir Hamburger jetzt sagen dürfen, denn: Die mutige Direktorin des Monsun Theaters an der Friedensallee, Ulrike von Kieseritzky, hat sich, obwohl ihr Haus zum Glück nicht von der Schließung bedroht ist, die hamburgische Erstaufführung gesichert.
Der äußere Handlungsablauf ist schnell erzählt: Der Regisseur Kai-Erik Cartier (Frank Maier) wird von einem Theater engagiert, das kurz vor seiner Schließung steht. Er soll ein Stück zur Rettung des Theaters entwickeln. Dabei muss er sich strikt an gewisse Förderrichtlinien halten, damit sich dieses Stück finanzieren lässt. Es gibt nämlich Menschen, die stellen klar, was förderwürdig ist und was auf die Bühne gehört und was nicht: Wer einen Beitrag zur Integration von Menschen mit Migrationshintergrund leistet, ist klar im Vorteil. Wer möglichst intermedial, interkulturell, interaktiv, international und dabei intellektuell und irre innovativ bleibt, bekommt den Zuschlag. Wer mit Laien arbeitet, kann ganz sicher mit Zuschüssen rechnen.
Inszenieren oder integrieren? Der Regisseur stellt sich also mit seiner Schauspielerin (Cornelia Schönwald) und seinem Pianisten (Sebastian Kemper) dieser schwierigen Frage und bemüht sich, den Zuschauern genau das zu zeigen, was sie nach Angabe der Förderrichtlinien auch sehen wollen. Der Unterschied zwischen Kai-Erik Cartier und mir ist, dass wir ihm in „Stör ich?“ beim Proben dieses Himmelfahrtskommandos zuschauen und dass er eine fiktive Figur in einem fiktiven Ensemble ist. Ein Theaterstück über ganz traurige und verarmte Theaterleute – wen interessiert denn das?
Aus intimer Insiderkenntnis haben die Regisseurin, ihre Produktionsdramaturgin Miriam Sievers und das herausragende Darstellertrio das so wichtige Generalthema mit viel Humor, Selbstironie, Idealismus und künstlerischem Sachverstand auf die Bühne gebracht. Ja, sie sind sogar aus Köln an die Elbe gekommen für eine minimale Gage, die kaum Reise und Unterkunft zu decken vermag, weil sie – nach eigenen Angaben dem Berichterstatter gegenüber – „unbedingt dieses Stück auch hier spielen“ wollten: Frontsoldaten also im Kampf gegen den zunehmenden Abbau kultureller Institutionen wie Schließung von Theatern, Orchestern und öffentlichen Bibliotheken.
Da wir aber spätestens seit Brecht wissen, dass Schauspiel noch nie wirklich etwas Gesellschaftsrelevantes verändert hat, die Theaterleute von Generation zu Generation aber stets erneut ohne erhobenen Zeigefinger, sondern auf humorvolle Weise belehrend versuchen müssen, wenigstens die endgültige Katastrophe zu verhindern, sind die Abende, die jetzt im Monsun Theater stattfanden, exemplarisch gelungen!
Text: Hans-Peter Kurr
Foto: ©Meyer Originals