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Ihr Lieben, viel zu weit entfernten

Szenische Lesung im Lichthof Theater
Ihr Lieben, viel zu weit entfernten

Briefe, die Geschichte(n) erzählen: Judith Compes (l.) und Sabine Dahlhaus (r.)

Text: Angela Dietz / Foto: Ellen Coenders

Es sind die kleinen Dinge des Alltags, die Menschen in der Gefangenschaft Hoffnung geben. So ergeht es der 18-jährigen Louise Jacobson im von den Deutschen besetzten Paris. Als sie aus der Schule kommt, wird sie festgenommen. Warum, weiß sie nicht und sie kommt sicher bald frei. Es sind leise Zweifel und knappe Sätze in den Briefen aus dem Gefängnis und später dem Sammellager, die die Drangsal, unter der das junge Mädchen leidet, und die aufkeimende Furcht zum Ausdruck bringen.

Sabine Dahlhaus und Judith Compes (kirschkern & COMPES) lesen aus Louises Briefen, dazwischen einige wenige des Vaters. Sie tun das mit der gebotenen Zurückhaltung. Kein falscher Ton, keine aufgezwungene Betroffenheit bedrängen das Publikum. Die inszenierte Lesung von Regisseur Marcel Weinand lässt genug Raum, um den manchmal erstaunlich heiteren Ton der Briefe zu hören. Und es ist genug Zeit, um aufzuhorchen, wenn mittendrin Verzweiflung aufscheint. Die inszenierte Lesung braucht wenige, klug eingesetzte Mittel, um diese Atmosphäre zu schaffen: Das transparente, sehr leise knisternde Papier der handgeschriebenen Briefe, ein gelber Stern, der aus der Schultasche geholt, aber nie angelegt wird. Die Wechsel der Sitz- und Stehplätze, von denen aus die beiden Schauspielerinnen sprechen, deuten die verschiedenen Briefe an, das Vergehen der Zeit, den langsamen Verlust von Lebensmut.

Das junge Mädchen schreibt von Frisuren und Philosophie, von der Klugheit und der Schönheit einer neu gewonnenen Freundin. Sie schildert, wie sie sich das Sommervergnügen der zurückgelassenen Freundinnen in Paris vorstellt und rügt den Vater liebevoll für unpassende Geschenke in den Päckchen. Immer wieder wünscht sie sich ein neues Kleidungsstück für die Entlassung. Sie erzählt von Diebinnen, Huren und Tätowierten. Sie entdeckt ihre Zuneigung für Menschen, die ganz und gar anders in Erscheinung und Umgang sind. Und sie empört sich über die Niedertracht und Brutalität einiger Gefangener.

Wie ist es einem Menschen, dazu einem jungen, nur möglich, angesichts zunehmender Schrecken an so etwas wie Zukunft zu glauben? Noch in Drancy, dem nordöstlich von Paris gelegenen Sammellager, von dem aus Zehntausende französische Juden in die Vernichtungslager deportiert wurden, lernt Louise fleißig und lobt ihre Lehrer. „Stell dir vor Papa, ich habe eine Eins in Mathe geschrieben.“

Viele der Briefe sind an ihre Schwester Nadia gerichtet, die sie aufmuntert: „Verlier nicht den Mut.“ Jene Schwester, Nadia Kaluski-Jacobson, hat 45 Jahre nach dem Tod von Louise im Vernichtungslager in Auschwitz 32 erhaltene Briefe veröffentlicht. Von Conny Frühauf ins Deutsche übertragen, erschienen sie 1996 im Theaterstückverlag München. Vielleicht ist es nicht viel, was heutige Jugendliche wissen müssen, um, an die Lesung von Judith Compes und Sabine Dahlhaus anschließend, über Louise, über die Willkür und die Gewaltherrschaft in der NS-Zeit zu sprechen. Wenn Schüler Grundlegendes wissen, dürften es viel eher eine offene Gesprächskultur und der Mut, Fragen zu stellen, sein, die das ermöglichen.

Die Briefe wurden mit Unterstützung von Serge Klarsfeld, dem Präsidenten der Vereinigung der Söhne und Töchter der deportierten Juden Frankreichs ergänzt durch zeitgeschichtliche Informationen, als Buch veröffentlicht und in mehrere Sprachen übersetzt.

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