Text: Angela Dietz | Foto: Fabian Hammerl
Der Filzstift gleitet in der Hand von Mary Ann (Florentine Weihe) über das White Board. Zwei Kreuzchen an der Tafel im Klassenzimmer der ehemaligen jüdischen Mädchenschule, schon ist die Reise von Hamburg nach New York gezeichnet. Theresienstadt, Auschwitz und Mauthausen kommen im Laufe des Stücks von Christiane Richers hinzu. Das sind die Stationen in Esther Bauers Leben. Sie ist Mary Anns Grandma, die Zeitzeugin, die das Grauen der NS-Zeit an diesen Orten überlebt hat.
„Ich hab mir noch nie Sorgen um Grandma gemacht“, sagt Mary Ann stirnrunzelnd. „Aber jetzt.“ Eigentlich wollte Esther Bauer, die Holocaust-Überlebende, von ihrem Leben in Hamburg Eppendorf in der NS-Zeit, von Ghetto und KZ dem Publikum im Klassenzimmer berichten. Das Publikum sitzt in einem Klassenzimmer der Schule, die Esther einst besuchte und die ihr Vater leitete. Nun fühlt sich die 88-Jährige zu schwach, will noch ein wenig ausruhen.
Mit diesem dramaturgischen Kniff gelingt es, mehrere Fragestellungen einer Inszenierung (Regie: Katja Langenbach), in deren Mittelpunkt der Bericht einer Holocaust-Überlebenden steht, zu lösen. Wie kann heute, aus größer gewordener historischer Distanz, eine Schauspielerin eine solche Rolle spielen? Es ist die Enkelin, die den Monolog spricht. Esther Bauer, die Großmutter, betritt die Szene nicht.
So muss die vorhandene Distanz nicht geleugnet werden und die Gefahr, in falsche Identifizierung und Gefühligkeit zu rutschen, ist geringer. Zugleich ist durch die Enkelin die Perspektive einer Vertreterin der heutigen jungen Generation eingewoben, die aber durch „Granny“ in Verbindung mit dem historischen Geschehen steht. Sie wird die glaubwürdige Mittlerin in einer Zeit, in der es immer weniger Zeitzeugen gibt.
Florentine Weihe ist eine überzeugende junge Mary Ann, die es schafft, auf dem schmalen Grat zu wandern – zwischen jugendlichem Enthusiasmus und dem Ernst und der Ungläubigkeit angesichts der Gewaltverbrechen der Nazis. So sind es in der Neueinrichtung des Klassenzimmerstücks von Herbert Enge und Christina Fritsch nur kleine Details, die Mary Anns Jugendlichkeit und ihre Zeitgenossenschaft zeigen. Teaneck, ein Vorort von New York, in dem sie lebt, ist natürlich stinklangweilig. Und sie singt in einer Band, die Musik macht „wie The Strokes, kennt ihr die?“.
Mary Ann erzählt vom Eppendorfer Park, der nie für Hunde verboten war, aber für Juden wie ihre Grandma. Fasziniert ist sie vom Verlieben Esthers und ihren guten Freunden. Und sie spielt, wenn sie mit Vehemenz fragt: „Warum seid ihr denn nicht untergetaucht?“ Denn der Urgroßvater, Dr. Alberto Jonas, Esthers Vater, ist 1942 im Ghetto Theresienstadt umgekommen.
Esther Bauer selbst kommt den Zuschauern als O-Ton aus dem MP3-Player zu Gehör. Kurze Einspielungen sind das, in einer berichtet Esther Bauer von der Selektion durch Josef Mengele in Auschwitz. Der unprätentiöse Tonfall, in dem sie das tut, versetzt einen als Zuhörer in Erstaunen. Die Holocaust-Überlebende hat tatsächlich schon mehrfach in Deutschland über ihr Leben gesprochen, beispielsweise mit Jugendlichen.
Richers’ Stück zeigt in kleinen Wendungen auch die Auseinandersetzungen der Überlebenden, wie das Vergangene, doch zugleich immer Gegenwärtige, erzählt und interpretiert werden darf. Soll die Enkelin Deutsch lernen? Sie spricht Deutsch. Soll sie ins Land der Täter fahren? Das fragt nicht Esther, sondern ihre Tochter, also Mary Anns Mutter, die in den USA geboren ist. Die Autorin lässt sogar kleine Zweifel an erzählten Details der Großmutter zu. Es sind diese Ebenen, die das Stück glaubwürdig und aktuell machen.
Weitere Vorstellungen im Dr. Alberto-Jonas-Haus, Karolinenstraße 35
Vormittagsvorstellungen um 9.30 und 11.30 Uhr: 22. Februar, 22. März, 26. April und 24. Mai
Abendvorstellungen um 19 Uhr: 11. März, 8. April, 13. Mai und 16. Juni
Karten nur über die Tageskasse des Thalia Theaters, Telefon: 32 81 44 44
Das Stück wird auch in Schulen gespielt, Telefon: 32 81 41 39