Text: Birgit Schmalmack | Foto: Ruth Walz
Fast schien es, dass die Jury, die zum Theaterfestival nach Hamburg eingeladen hatte, dieses Jahr mutiger geworden sei. Dem oft geäußerten Vorwurf, dass die Stücke nur nach Publikumsgeschmack und Verkaufszahlen ausgewählt würden, begegnete sie 2013 mit punktuell größerem Mut zu Inszenierungen, die auch mal herausfordern und anstrengen durften.
So führte die Münchner Inszenierung von „König Lear“ vor, wie schnell der Sturz ins Nichts kommen kann. Regisseur Johan Simons lässt den alten Regenten Lear, der allzu vorschnell und freigiebig auf Reichtum und Macht verzichtet, im Schweinestall landen. Fünf lebendige Schweine sorgten im Thalia Theater dafür, dass den Zuschauern mit allen Sinnen bewusst gemacht wurde, wie nah Erfolg und Absturz liegen. Der Glanz ist weg, statt Prunk gibt es nur Lametta. Statt Marmor nur Rindenmulch. Statt eines Palastes nur eine Drehscheibe mit Rollrasen. Lears Fall hat nichts Heldenhaftes zu bieten: Er wird zu einer Kreatur, die außer ihrer nackten Haut nichts mehr besitzt. Das war großen Teilen im Publikum zu wenig unterhaltsam; nach der Pause waren die Reihen sichtlich leerer.
Ein Zweipersonenstück zog die Zuschauer ins St. Pauli-Theater, denn Thomas Thieme zeichnete dafür verantwortlich. Eine „Konzertante Aufführung“ kündigte er an. „Musikalische Lesung“ wäre korrekter gewesen. Auch wenn Thieme in seiner ganzen Körperlichkeit vor den Zuschauern auf der Bühne steht, wird „Baal“ zu einem reinen Hörstück. Begleitet von seinem Sohn Arthur an der E-Gitarre mit treibenden, einlullenden oder aufrührenden Klängen, verschwimmen schnell die Grenzen zwischen den Figuren. Alle Stimmen Thiemes werden zu Baal, dem unbestrittenen Zentrum des Stückes. Man beginnt, die Zügel zu bedauern, die Thieme sich hier angelegt hat. Um wie viel eindrucksvoller wäre der Abend geworden, wenn er sich tatsächlich auf die Figur des Baals fokussiert hätte? Wenn man, wie er vor Beginn als lebendes Programmheft angekündigt hatte, tatsächlich einen alternden Baal auf der Bühne gesehen hätte, der sich an seine Jugend erinnert?
Tschechow kann witzig sein. Das bewies Matthias Hartmann mit seiner Inszenierung von „Onkel Wanja“ am Burgtheater, die auf dem Theaterfestival zu Gast war. Sie beginnt mit einem Knalleffekt. Die Schlussszene des Stückes, in dem Wanja mit dem entsicherten Gewehr Jagd auf den Professor macht, setzt Hartmann an den Beginn. Damit ist die Richtung klar: Nicht selbstreflexive Langeweile und ewige Mitleidstour sondern Unterhaltung ist angesagt. Alle Aspekte, die dazu dienlich sind, hat Hartmann aus dem Stück „Onkel Wanja“ sorgsam herausgearbeitet. Die fast durchweg hochkarätige Darstellerriege hatte es schwer, gegen diese Eindimensionalität ihrer Rollen anzuspielen. Handwerklich durchgehend hervorragend gearbeitetes Unterhaltungstheater bekam das Festivalpublikum hier geboten, leider nicht mehr.
Andere Aspekte brachten alte Thalia-Bekannte mit nach Hamburg: So romantisch hatte man Michael Thalheimer noch nie gesehen. Er stellt die große Liebe von Hannes (Nico Holonics) und Lämmchen (Henrike Johanna Jörissen) für „Kleiner Mann, was nun?“ in einen Bilderrahmen der Idylle. Doch nur, um sie danach umso wirkungsvoller an der Realität der Umstände zerschellen zu lassen. „Nur nicht arbeitslos werden.“ Der Chor hämmert es Emma und Hannes immer wieder ein. Doch im Berlin der 20er Jahre können sich Lämmchen und Jungchen noch so anstrengen, noch so ehrlich, sparsam, gut, redlich, fleißig und anspruchslos sein, sie werden aussortiert werden. Hinter jeder ihren kleinen Freuden sitzt schon die Angst. So gerät die vermeintlich süße Liebesgeschichte von Hans Fallada bei Thalheimer zu einem Plädoyer gegen einen Raubtierkapitalismus, bei dem der Mensch auf ein funktionierendes Rädchen in der Maschine der Gesellschaft degradiert wird.
Ein weiterer Thalheimer war mit dabei: „Meiner Liebe entkommst du nicht“, sagt Oskar zu seiner Verlobten Marianne, die es trotzdem wagt, mit dem Halodri Alfred zu türmen. Michael Thalheimer liest die „Geschichten aus dem Wiener Wald“ von Ödon von Horvath konsequent und eindrucksvoll als die Geschichte einer Frau, die zerbricht, weil sie in ihre gesellschaftliche Rolle hineingepresst werden soll. Karin Wiechmann ist die Idealbesetzung für diese Rolle. Sie spielt mit großer Vehemenz die Unbedarftheit dieser jungen Frau. Thalheimer zeigt sie als gradlinigen Charakter, während er alle anderen als Karikaturen ihrer selbst auf die Bühne treten lässt. „Ich kann nicht mehr“, meint auch sie zum Schluss. Ihre Widerstandskraft ist erlahmt. Sie setzt sich eine quadratische Pappmaske auf, wie sie schon alle anderen tragen.
Vier auf einen Streich. Stephan Kimmig erzählt gleich die ganze Tragödie des Geschlechtes der Labdakiden mit „Ödipus“, „Sieben gegen Theben“, „Die Phönizierinnen“ und schließlich „Antigone“. Innerhalb von etwas über zwei pausenlosen Stunden will er den großen Bogen spannen und den Fall aufklären: Wer ist schuld? Die Entwicklung Kreons steht trotz des Titel gebenden Ödipus im Mittelpunkt von „Ödipus Stadt“. Die grandiose Susanne Wolff, die ihn spielt, zeigt alle Stadien seiner Entwicklung minutiös. Zu Beginn ist sie der weise Ratgeber, dann der verzweifelte Beobachter, der vernünftige, pragmatische Lösungssucher und der liebende Vater. Doch als er dann die Königskrone in der Hand hält, gewinnt die Lust an der Macht allmählich Überhand über seinen scharfen Verstand. Den großen Bogen zu spannen, ist Kimmig gelungen. Natürlich sind dabei viele, auch sprachliche und philosophische Aspekte der vier Ursprungsstücke über Bord gefallen. Die Handlungsstränge und psychologische Charakterisierungen mussten reichen. Und sie reichen für eine spannende Einführung in den Ödipus-Fall.
Wie ein Wurm schlängelt sich „Tartuffe“ in die Seelen seiner Mitmenschen. Er lebt von ihnen als Parasit und geriert sich dabei als Wohltäter. So hat er sich auch in das Herz und Haus des wohlhabenden Orgons eingeschlichen. Die Bedürfnisse seiner Familie sind diesem nun herzlich egal, wenn er nur den „armen Mann“ Tartuffe zufrieden stellen kann. Luc Bondy hat das Molière-Stück bestechend schön in Szene gesetzt. Der offene Salon des großzügigen, großbürgerlichen Bühnenbildes lässt das Publikum Teil von Orgons Hausgemeinschaft werden. Das windungsreiche Zusammenspiel vom schlangengleichen Joachim Meyerhoff und der verführerischen, zarten Johanna Wokalek ist ein Hochgenuss, dem die übrige Star-Schauspieler-Riege in nichts nachsteht. Wieder einmal überaus unterhaltsames, nicht allzu anstrengendes Schauspielertheater, das die Inhalte, seine Darsteller und nicht die Regisseure in den Vordergrund stellt. Dem Publikum auf Kampnagel gefiel’s.
Das Hamburger Theaterfestival hat mittlerweile seine bewährten Lieblinge: Die Wiener Burg, das Schauspielhaus Frankfurt und das Deutsche Theater müssen dabei sein. Ohne Michael Maertens, Matthias Hartmann und Thalheimer geht es nicht, dieses Mal sogar alle gleich zweimal. Bei insgesamt acht Aufführungen schmälert das jedoch die Bandbreite. So bleibt die Jury auch dieses Jahr ihrem ungeschriebenen Gesetz treu, mit gut gemachten, möglichst unterhaltsamen Klassikerinszenierungen und klingenden Namen möglichst viel Publikum anzuziehen. Und dieses Konzept geht auf: Der Anblick von leeren Plätzen blieb den Veranstaltern erspart.