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Die Rasenden (1)

Deutsches Schauspielhaus
Die Rasenden

Antike Helden hinter Masken: Yorck Dippe und Maria Schrader

Text: Hans-Peter Kurr | Foto: Klaus Lefebvre

Heureka! Es ist geschehen: Am vergangenen Samstagabend konnte die neue Herrscherin im Haus an der Kirchenallee, die vom Rhein an die Elbe gezogene Karin Beier, nach monatelanger Verzögerung das Große Haus mit ihrer Fassung und Inszenierung eines umfänglichen, fast sieben Stunden dauernden Atriden-Dramas eröffnen. Um es vorweg zu sagen: Es war an diesem traditionsreichen Theater eine der am meisten umjubelten Premieren seit der Zeit des großen Gründgens.

Was ist ein Atriden-Drama? Es speist sich aus der altgriechisch-mediterranen Mythologie, deren Ereignisse und Entwicklungen durch den Einfluss der zwölf olympischen Götter auf die Menschenwelt initiiert werden. Darin entpuppt sich das göttliche Schöpfungs- und Willenswerk aus der Sicht des geistig noch nicht erwachten Menschen immer anders und ist mit vielen unterschiedlichen Namen verknüpft, zum Beispiel im Mythos der Rachegedanken des Zeus gegen Prometheus, der den Göttern das Feuer stahl und es den Menschen schenkte.

In unserem Fall liegt – mythologisch seit der Antike tradiert – ein Fluch über den Atriden, die mit anderem Namen nach ihrem Begründer Tantalos auch Tantaliden genannt werden: Das war jener, der die Götter beleidigte, indem er jenen bei einem Festmahl den eigenen Sohn Pelops als Braten vorsetzte, was die Olympier selbstverständlich durchschauten und nicht nur den Verbrecher auf ewig verstießen, sondern auch seine Kinder „bis ins dritte und vierte Glied“, also hin bis zum Rächer Orest, der am Schluss in diesem nicht endenden Wirbelfeld seine eigene Mutter Klytaimnestra tötet.

Diese Wahnsinnsgeschichte, die bis heute, also in den Tagen des – hoffentlich! – geistig erwachten Menschen seine Symbolik erhalten hat („Es fürchte die Götter das Menschengeschlecht!“), reizte Karin Beier und ihre Stellvertreterin Rita Thiele offenbar. Aus den Quellen von vier verschiedenen Dichtern diachron von der Antike bis zur Gegenwart (Euripides, Sartre, Aischylos und Hugo von Hofmannsthal) schufen sie die Spielfassung einer umfänglichen Trilogie, die die Titel „Iphigenie in Aulis“, „Die Troerinnen“ und „Die Orestie“ trägt und meines Wissens zum ersten Mal auf einer deutschen Bühne (seit Ende des Zweiten Weltkrieges) diese Abfolge der Mythen chronologisch und selbst für den weniger belesenen Zuschauer in vollkommener Klarheit ablaufen lässt. Durch diesen Umgang mit dem Stoff vermag jeder Theaterbesucher zu erkennen, dass antike Dramen wie jene von Sophokles, Euripides und Aischylos bis in unsere Tage inszeniert werden, weil ihr Aussagewert bis heute Gültigkeit hat, wenn man das lateinische Wort „konservativ“ genauestens übersetzt, nämlich: Ein Kunstwerk zu tradieren, das in dieser Beziehung zeitlos ist, war und bleiben wird und es bis ans Ende der Tage der Menschheit zu erhalten gilt.

Beiers unschätzbares Verdienst als Regisseurin (und das hätte ohne diese Spieldauer gewiss nicht funktioniert!) besteht einerseits darin, dass die Linien des Schicksals bei ihr mit sicherer Zwangsläufigkeit vom tiefsten Elend in die Hoffnung der Helle verlaufen, wenn sie ganz am Schluss der Orestie drei Figuren erfindet, die sie „Die Wohlmeinenden“ nennt, damit diese dem Muttermörder Orest zumindest eine aktuelle Zukunftsperspektive vorgaukeln; andererseits auch in der personellen Zusammensetzung ihres wunderbaren Schauspieler-, Chor- und Musiker-Ensembles. Geschätzt bildet dies mehrere hundert Personen auf der Bühne, sodass es ungerecht wäre, daraus einzelne Namen als besonders erwähnenswert herauszupicken. Sie sind alle von großartiger Präsenz und künstlerischer Reife.

Da wir an dieser Stelle kein Buch veröffentlichen können, wie es des Hauses Dramaturgie hervorragend getan hat, angefüllt mit exzellenten Beiträgen, sei abschließend vermerkt: Diese Tetralogie, durch die angehängten „Eumeniden“ in Peter Steins Übersetzung, aus der ursprünglichen Trilogie erwachsen, erfüllt und getragen von den Kräften der Mythologie, ist gleichermaßen durchströmt von den Gesetzen ewiger Gültigkeit, auch und eben in der Moderne. Frenetischer Beifall im renovierten, teils umgebauten und endlich wieder eröffneten Haus an der Kirchenallee.

Hier geht es zur Besprechung von Dagmar Ellen Fischer.

Aufführungen: 24.1., 17 Uhr; 9.2., 15 Uhr; 22.3., 17 Uhr; 30.3., 16 Uhr, Deutsches Schauspielhaus

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