Text: Birgit Schmalmack | Foto: Richard Haughton
Die globalisierte Welt stellt die Individuen vor neue Herausforderungen. Mit ungewohnten Identitätsfragen müssen sie sich herumschlagen. Bei den diesjährigen Lessingtagen wurde kaum ein Kontinent ausgespart: Asien, Afrika, Europa, Südamerika – alle waren mit mindestens einer Produktion vertreten. Eine Frage stand bei den meisten im Fokus: Wie kann ein Leben mit oder vielleicht sogar zwischen verschiedenen Kulturen gelingen?
In „Ein Russe ist einer, der Birken liebt“ vom Maxim Gorki Theater ist Mascha wahlweise Jüdin, Deutsche, Russin oder Aserbaidschanerin. Sie will ihre schreckliche Vergangenheit kappen, um Möglichkeiten der Gegenwart voll auszuschöpfen. Erst schmerzvoll reift die Erkenntnis, dass ihr Versuch, dabei eine innere Heimat zu finden, scheitern muss. Diese dramatische Lebensgeschichte wird unter den Händen der Regisseurin Yael Ronen zu einem mitreißenden und humorvollen Theaterabend. So wirkt sie zwar jedem Anflug von Kitsch, Melodram oder Langeweile entgegen, verhindert aber auch tiefer gehende Momente des Innehaltens und Nachdenkens.
Der 700-seitige Roman des indischen Schriftstellers Kiran Nagarkar „Gottes kleiner Krieger“ lieferte die Vorlage für eine weltumspannende Wahrheitssuche. Der Inder Ziad fühlt sich berufen, in den Dschiad für die vermeintlich richtige Sache zu ziehen. Er findet sie zuerst im Islam, dann im Christentum und schließlich im Buddhismus. Die Freiburger Regisseure Jarg Pataki und Viola Hasselberg verließ anscheinend der Mut angesichts dieses vielschichtigen Romans um extremistisches Gedankengut, daher sorgten sie für eine ironische Brechung durch die Darbietungsform des Bollywood Musicals. So wurde ein enormer inszenatorischer Aufwand an buntem, peppigen Überbau betrieben, unter dem der Text mit seinen gesellschafts- und religionskritischen Thesen leider fast zu verschwinden drohte.
Einer der Tanzabende begeisterte jenseits intellektueller Diskurse mit der Vision eines gelungenen Brückenschlags. Wenn neun algerische HipHop-Dancer den Bolero von Ravel tanzen, verspricht das neue Seherfahrungen. Diese Erwartung erfüllt die Zusammenarbeit des französischen Choreographen Abou Lagraa mit den ehemaligen, algerischen Straßentänzern in „NYA“. Die Vision wird perfekt, wenn er sie nach der Pause zu sakralen afrikanischen Gesängen tanzen lässt. Die Welten des klassischen Tanzes, der Streetart und Religiosität verschmelzen hier zu einem großen Ganzen, das für diesen Moment auf der Bühne entstehen darf. Wenn die politische Realität doch diese Möglichkeit ebenso scheinbar mühelos böte!
Das direkte Gespräch mit Gott suchte eine kleine Stoff-Puppe mit einem Pappkartongesicht. In „The Table“ vom Blind Summit Theatre wird sie zu Moses, der auf den Berg Nebo klettert und mit Gott verhandelt. So beginnt eine ausschweifende Exkursion über Wahrheit und Fiktion. Wer führt hier eigentlich wen? Führte Gott Moses? Führte Moses sein Volk? Führt der Puppenspieler die Puppe oder sie ihn? Bis zum Schluss bleiben diese Fragen offen, zu perfekt ist die Illusion, die diese tollen Philosophen des Puppenspiels aus London beim Hamburger Gastspiel erschufen.
Der gläubige Jude Yossel Rakover erlebte im Wahrschauer Ghetto, dass Gott die Ermordung seines auserwählten Volkes zuließ. Müsste ein Mensch darüber nicht seinen Glauben verlieren? Gott habe alles getan, damit er nicht mehr an ihn glauben könne. Doch bekennt er mit gerührter Stimme: Ich bin immer noch verliebt in dich! Thilo Werner ist dieser beeindruckende Yossel in Ariel Zingers Inszenierung des Monologes auf Jiddisch „Vendung tsu Got“ von Zvi Kolitz. Dieser fiktionale Text ist ein eindrucksvolles Mahnmal eines Glaubenden. Denn wenn ein Mann wie Yossel nicht an Gott irre werden will, hat er nur die Möglichkeit, bedingungslos an ihn zu glauben.
In seiner sehr persönlichen Arbeit „Desh“ wollte der Choreograph und Tänzer Akram Khan, der aus einer bengalischen Einwandererfamilie stammt und in London aufwuchs, sich mit der komplizierten Mixtur seiner Sozialisation auseinandersetzen. Erinnerungen, Erfahrungen, Erzählungen und Mythen verwob er kunstvoll zu einem prallen Abend über seine schwierige Identitätssuche zwischen den Kulturen und zwischen Tradition und Moderne. Sein Bewegungsvokabular zeigte das in einer fließenden Verknüpfung von klassisch-indischem Kathak- und westlichem Tanz. Dieser Abend versetzte in einen Bilder- und Geschichtenrausch, dessen Vielfalt in nur 90 Minuten fast erschlug und dessen ganze Vielschichtigkeit und Gedankenfülle sich erst auf dem Nachhauseweg zu erschließen begann.
Der letzte Abend der diesjährigen Lessingtage, der den Gruppen „Lampedusa in St. Pauli/Hamburg“ gewidmet war, ließ die philosophischen Fragen des Festivals unsanft auf den Boden der realen Umsetzung in Hamburg aufprallen. Denn nach der swingenden „Schattensenat“-Show, in der Bernadette La Hengst mit ihrem jungen Laien-Ensemble ein Wohlfühlklima mit wenigen, fast überhörbaren, politischen Seitenhieben verbreitete, konnten die Zuschauer in Kleingruppen mit Experten sprechen, die hier in Hamburg mit der Lampedusa-Gruppe gearbeitet hatten. Was launig als musikalische Unterhaltungsshow begann, wurde im zweiten Teil zu einer emotionsgeladenen Diskussion über den richtigen Weg, die eine Spaltung der Flüchtlings- und Unterstützergruppen offensichtlich machte. So wurde der gutgemeinte Abend auch zu einem Beispiel dafür, wie schnell Hilfsbereitschaft und Menschenfreundlichkeit zum spaltenden Politikum werden können.
Dem Thalia Theater gebührt Achtung, dass es innerhalb der Lessingtage den Raum bot, um die hehren Proklamationen der Kunst direkt mit Fragen der aktuellen Umsetzung in Hamburg zu konfrontieren. Erst so kann sich Lessings Anspruch der Toleranz erweisen.