Highlight / Interview / Kinder & Jugend / Spurensuche 2014

Spurensuche 2014. Alles nur erfunden!

Fundus Theater
Jürgen Zielinski

Jürgen Zielinski übernahm 2002 die Intendanz des Theaters der Jungen Welt in Leipzig

Foto: Tom Schulze

Ein Interview von Angela Dietz mit Jürgen Zielinski, dem Intendanten des Leipziger Theaters der Jungen Welt, einem der renommiertesten Jugendtheatermacher Deutschlands. Er leitete u. a. das Jugendtheater auf Kampnagel (JAK). 2013 erhielt er den ASSITEJ-Preis für besondere Leistungen im Bereich Theater für junges Publikum. Er hat eine Dauerkarte von Borussia Dortmund, schaut gern mit seinem Freund, dem Schauspieler Dietmar Bär, Fußball und pflegt dabei seinen Ruhrpotthumor.

GODOT: Während der ersten Spurensuche 1992 ging es in den Diskussionen der Theatermacher um das Bild von Kindheit, das die Künstler haben. Fragen wie „was ist kindgemäß?“ wurden diskutiert, ein Mythos von Verständlichkeit im Theater konstatiert. Um was geht es heute?

JÜRGEN ZIELINSKI: Damals gab es ein wenig „Kindertümelei“, um bei den Kindern anzukommen. Der gehaltvolle Umgang mit einer Dramatik für Kinder war noch nicht auf dem Stand, auf dem wir uns heute befinden. Vom Anspruchsniveau und von der Spielweise her unterscheidet sich die Dramatik für Kinder heute kaum mehr von dem an einem durchschnittlichen Stadttheater. Wir sind zunehmend zum generationenübergreifenden Theater geworden, zum Familientheater. Wir setzen Impulse, die hoffentlich den ästhetischen Blick schärfen.

GODOT: Qualität und Anspruch sind genauso wie im Erwachsenentheater?

JÜRGEN ZIELINSKI: Das nehme ich für mich in Anspruch, wobei wir hier in Leipzig eine Sondersituation im bundesweiten Vergleich haben. Wir haben bei den Vorstellungen für Familien eine Auslastung von 51 Prozent am Nachmittag und am Abend – nicht am Vormittag, wie andere Bühnen. Seinerzeit ging es in der Freien Szene um den Überlebenskampf, sich einen Markt zu erschließen, um Gastspiele zu kämpfen und darum, sich um die Anerkennung dieser Kunstform zu bemühen. Das hat sich sehr gewandelt. Viele deutsche Stadttheater haben im vergangenen Jahrzehnt die junge Sparte oder das Label Junges Theater erfunden. Vor dem Begriff Kinder- und Jugendtheater schrecken einige etwas zurück. Die Freie Szene hat sich enorm stabilisiert und entwickelt. Die Spurensuche war dafür der wesentliche Auftakt, zeichenhaft, impulsgebend, vor allem für Erweiterung des gesamten Genres.

GODOT: In Hamburg wünschen sich manche der freien Gruppen ein festes Haus.

JÜRGEN ZIELINSKI: Das ist der Verteilungskampf zwischen „Groß und Klein“, der allerorten wahrnehmbar ist. Ich finde diesen Zugriff grundsätzlich richtig. Ich bin der festen Auffassung, dass die Zukunft unserer Kultur davon abhängt, dass wir so frühzeitig wie möglich Impulse für die ästhetische Wahrnehmung setzen, Schulung der Sinne, auch eingedenk der Zwangslage der Kommunen, damit die Häuser künftig überhaupt noch gefüllt werden können.

Die Konkurrenz der Eventkultur ist wahnsinnig wahrnehmbar. Eine Kultur, die die Realität der Bevölkerung, den Alltag der Kinder und Jugendlichen wahrnimmt, dagegen zu setzen, halte ich für absolut vonnöten. In diesem Sinne sind wir in dieser Mission auf dem richtigen Weg.

GODOT: Bei der ersten „Spurensuche“ sprachen die Theaterleute viel über Qualitätskriterien. Die Aufzeichnungen wirken auf mich heute teilweise so, als ob man sich nicht festlegen wollte. Was sind für Sie Qualitätskriterien? Realität im Unterschied zur Eventkultur?

JÜRGEN ZIELINSKI: Es geht bei der Realitätswahrnehmung nicht darum, den Realismus zu predigen, sondern darum, in metaphorischer Weise, in Zeichensprache, in Verbindung mit Klangbildern, sehr gehaltvolle neue oder fremde Töne und Sprachbegegnungen zu erzeugen, die sich zum Beispiel mit der Tatsache auseinandersetzen, dass wir ein Einwanderungsland geworden sind.

Und es geht natürlich darum, Autoren zu finden, die für Kinder und Jugendliche gehaltvolle Stücke schreiben. Das war damals eine wesentliche Diskussion. Das sind sicher keine simplen Realismen, die sich auf eine Abbildung von Jugendsprache beschränken oder dort etwas abgreifen.

Ich glaube, Kinder- und Jugendtheater sollte nicht immer mit den schnellen Bildern konkurrieren. Im Gegenteil, es kann ein oasischer Raum sein, in dem aus der Kontemplation heraus ästhetische Tiefe entsteht. Wo ein anspruchsvolles Gesamtkunstwerk möglich wird, das etwa choreografische Aspekte in die Inszenierung einbezieht. Ein Gesamtkunstwerk, das nichts herunterbricht, das an die Lust der Kinder und Jugendlichen zur Enträtselung von Bildern anknüpft. Das ist ein wesentlicher Schlüssel zur Welterfahrung. Die Welt steht ihnen ja teilweise sehr rätselhaft gegenüber. Da wollen wir ein Wegbegleiter sein, der das dramaturgisch in Form und Farbe umsetzt.

GODOT: Daran interessieren mich mehrere Aspekte. Erreichen Sie damit am Theater der Jungen Welt in Leipzig Migranten?

JÜRGEN ZIELINSKI: Als ich hier anfing, hatten wir eine „Ausländerquote“ von unter fünf Prozent, jetzt von zehn. Wir haben deshalb nach Produktionen und vor allem Veranstaltungsformen gesucht, die sich damit befassen. Inzwischen sind wir da noch offensiver. Wir haben erfahren müssen, wie sich Bürger gegen die Ansiedlung von Asylbewerbern gewandt haben, wie sich politisch Rechte da ein- und untergemischt haben. Wir sind ein kleineres Theater und können deshalb schneller reagieren und entsprechende Veranstaltungsformate machen.

Ein Format, das wir schon frühzeitig ausprobiert haben, war „Hotel Babylon“, ein Ritual, an dem etwa 50 Migranten und rund 20 Zuschauer teilgenommen haben. Ein Zuschauer legt sich in ein Bett. Auf ein Zeichen tritt ein Mensch an sein Bett, setzt sich und erzählt ihm (s)eine Geschichte in seiner Muttersprache. Hinterher fragt der Geschichtenerzähler ihn so gut es geht auf Deutsch, ob er ihn verstanden habe. Durch diese Situation kamen sie dann ins Gespräch. Das haben wir außerdem in einem Gymnasium mit über 300 Schülern gemacht, sehr spannend. Obwohl ich zwischendurch sogar selbst skeptisch dem gesamten Programm gegenüber war, haben wir dafür sogar einen Preis bekommen: Kinder zum Olymp 2005. Theater kann keine Berge versetzen, es kann begleiten und kritische Fragen stellen. Die Realität, wie mit dem und den Fremden umgegangen wird, ist nach wie vor ein großes Problem.

GODOT: Wie finden Sie Ihre Autoren?

JÜRGEN ZIELINSKI: Kinder- und Jugendtheater wurde sehr oft mit Herablassung betrachtet und nicht ernst genommen. Im Unterschied zum sogenannten richtigen Erwachsenentheater stand es dauernd unter Beweisdruck, ebenso gut zu sein. Das führte dazu, dass sich viele auf die Klassiker warfen, zum Teil in abgespeckter Form. Das ist ein Phänomen. Zum anderen sind durch die jahrelangen Diskussionen in der Jugendtheaterszene mit dem Engagement von Assitej und seinem Zentrum für Kinder- und Jugendtheater in Frankfurt/Main unterschiedlichste und vielfältigste Formen der Autorenförderungen entwickelt worden, inklusive Stipendien und der Verleihung der Staatspreise alle zwei Jahre.

Im Februar gab es den 4. Boxenstopp am Theater der Jungen Welt Leipzig, am Jungen Staatstheater Braunschweig und am Theater an der Parkaue, Junges Staatstheater in Berlin, ein im Rahmen dieser Autorenförderung etabliertes Format. Drei Stipendiaten des Deutschen Kindertheaterpreises wurden ausgewählt, ihre Treatments weiterzuschreiben. An den drei Theatern finden dann Schnellinszenierungen statt, acht bis zehn Tage Probenzeit. In Werkstattgesprächen diskutieren Fachpublikum und übriges Publikum die Ergebnisse dieser Praxiserprobung.

GODOT: Ist es schwieriger, Autoren für das junge Publikum zu finden oder für die älteren, die Jugendlichen? Ist die Anzahl der Stücke gut auf die unterschiedlichen Altersgruppen Kinder und Jugend verteilt?

JÜRGEN ZIELINSKI: Nein. Es gibt nach wie vor ein großes Leck bei den Kinderstücken. Es gibt deutlich mehr Stücke für Jugendliche. Deshalb geht es beim Boxenstopp ausschließlich um Stücke für Kinder. Es gab einen Trend in den letzten zehn Jahren, neue Erzählformen für Kinder zu finden, jenseits einer durchgeschriebenen Dramatik. Das führte unter anderem dazu, dass jedes dritte Theater eine Bilderbuchbearbeitung produzierte. In Hamburg etwa gibt es den Verlag für Kindertheater, die haben tolle Sachen. Ich habe schon mit ihnen zusammengearbeitet. Die haben eine Menge Rechte an Stücken und Stoffen. Generell sehe ich diesen Trend aber als Problem.

GODOT: Ist die Fortsetzung der „Spurensuche“ heute noch sinnvoll? Was erwarten Sie davon?

JÜRGEN ZIELINSKI: Das ist eine schwierige Frage, da ich nicht mehr alles verfolge, was in Hamburg läuft. Ich war damals in Hamburg in einer Zwittersituation, einerseits städtisch hoch gefördert als Leiter des JAK auf Kampnagel, andererseits frei. Deshalb kann ich keine Aussage zur gesamten Freien Szene machen. Eine Diskussion finde ich richtig.

Allerdings frage ich mich, ob sich die „Spurensuche“ als Treffen der Freien Szene nicht ihrerseits dem staatlich geförderten, dem institutionalisierten Kinder- und Jugendtheater öffnen sollte. Warum separate Treffen? Es gibt einige größere regionale, auf denen beide vertreten sind. Die Zusammenarbeit und die Kooperationen vom Freien und staatlich geförderten Kinder- und Jugendtheater sind bundesweit ganz real.

GODOT: Beim letzten Treffen in Berlin „Augenblick mal!“ standen fast ausschließlich staatlich geförderte Theater auf dem Programm. Spielt die Konkurrenz ums Geld eine Rolle?

JÜRGEN ZIELINSKI: Das war nicht immer so wie dieses Mal in Berlin. Die Konkurrenz gibt es bestimmt, aber trotzdem sollte man miteinander diskutieren.

GODOT: Ich komme noch einmal auf den Anfang unseres Gesprächs zurück: Ihre Haltung dazu, was im Theater kindgemäß ist, ist klar?

JÜRGEN ZIELINSKI: Kindhaftes Verhalten zu imitieren oder Theater zu vereinfachen, ist falsch. Theater muss immer am Rande der Überforderung sein. Damit bin ich schon damals in Hamburg angetreten. Dennoch muss ich berücksichtigen, welche Altersgruppe ich fordere. Was uns grundlegend vom ausschließlich für Erwachsene gemachten Theater unterscheidet: Wir verfügen über die doppelte Kompetenz. Wir beherrschen einerseits das professionelle Theater und andererseits zugleich die altersgerechte Inszenierung. Im wissenschaftlichen Bereich wird dazu in den Instituten der Unis geforscht, von Hildesheim bis Gießen. Für mich ist wichtig – um im Fußballbild zu sprechen – was auf dem Platz ist.

GODOT: … was auf der Bühne ist. Besten Dank für das Gespräch!

Hinterlassen Sie einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

*