Text: Angela Dietz | Foto: Andreas Schwarz
Fast jeder hat sie schon einmal gesehen: eine Frau, die einen ganzen Zug vollgestopfter Einkaufswagen über den Gehsteig schiebt, „Immer weiter“. Shoppen war sie nicht. Die pralle Wagenfüllung erweist sich bei näherem Hinsehen als mobiler Hausstand in Tüten. Die Frau lebt auf der Straße. Jetzt hat das Theater am Strom nach monatelanger Recherche die Geschichte einer Obdachlosen für Kinder ab acht Jahren auf die Bühne gebracht.
Gesche Groth als Maria steht in der Mitte der kargen, offenen Bühne und klopft sich mit der flachen Hand auf die Brust. Das ist ihr Signal für die folgende Arbeit. Die obdachlose Frau schiebt, zieht und dreht wortlos drei Kinderwagen und zwei Hackenporsche in Reih‘ und Glied. Dazu spielt Musiker, Komponist und Soundtüftler Frank Wacks vorne rechts auf der Bühne eine muntere Geigenmelodie.
In eine Lücke stellt Maria den Campingstuhl (Ausstattung: Marcel Weinand). Sie holt den Schlafsack aus einer Tüte, entfaltet ihn. Den Teebecher, das grüne Kuscheltier, die Kinderschühchen, den kurzen Schwebebalken – alles platziert sie ordentlich, haut dazwischen immer wieder auf den Boden, den Balken, tocktock. Schließlich balanciert sie mit Schirm auf dem am Boden liegenden Balken, begleitet vom melancholischer werdenden Geigenspiel.
Eine Drahtseiltänzerin, deren Geschichte sich nach dem „Hallo!“ im Ton eines „Ist da jemand?“ für die Zuschauer entfaltet. Gesche Groth nimmt immer wieder die Bauarbeiterohrenschützer ab, zieht die Sturmhaube von den Locken und erzählt als Rita am Mikrofon nüchtern von Maria: „Maria ist sauber, geschminkt und trägt Markenschuhe.“ Aber ihre Armut ist sichtbar. Sie sammelt Plastikpfandflaschen. Der Schauspielerin gelingt der Wechsel zwischen den Figuren mühelos.
Und die Obdachlose wartet. Sie schaut jedem in die Augen, der vorrübergeht. Vielleicht erblickt sie Thies, ihren Sohn, der inzwischen erwachsen ist und den sie nicht mehr sehen durfte. Es ist ein starker Moment, wenn Groth suchend über die Zuschauerreihen blickt und leise fragt: „Thies?“. So intensiv und überzeugend, dass die Kinder im Publikum sich umdrehen und nach Thies Ausschau halten.
Regisseurin und Autorin Christiane Richers inszeniert die Geschichte einer obdachlosen Frau als Textcollage mit stark dokumentarischem Charakter und berührenden, auch poetischen Momenten, wenn Maria Deich und Himmel im Dithmarschen ihrer Kindheit schwärmend und lautmalend beschreibt. Ihre Sprache ist zuweilen abgehackt, stichwortartig, vor allem, wenn das Erinnerte quälend wird: der Wohnungsbrand, der Jobverlust, die Trennung vom Sohn. „Kann ich nicht, das kann ich nicht, gute Mutter!“, ruft sie wie gehetzt, nachdem ihr eigener Bruder sie am Telefon gedemütigt hat. Er scheint nichts zu wissen vom Leben seiner Schwester. Oder nichts wissen zu wollen.
Im Hintergrund laufen auf Rumpfhöhe Filmsequenzen. Es ist der mögliche Weg einer Obdachlosen von den Brücken an der Alster durch die Innenstadt, über die Hochhäuser am Johanniswall, das Kontorhausviertel und St. Pauli. Auf der Strecke liegen Orte, die für Obdachlose wichtig sind, das CaFée mit Herz, die Gepäckaufbewahrung, die Duschmöglichkeit.
Andreas Schwarz hat den Weg aus der Perspektive einer Protagonistin, die den Blick gesenkt hält, gefilmt. Und er hat den Bildern fast vollständig die Farbe entzogen. Schön bunt ist das Leben auf der Straße nicht. Der eingespielte Straßensound ist künstlerisch bearbeitet und unaufdringlich wie die gesamte, gleichwohl beeindruckende Inszenierung.
Kurz vor der Bürgerschaftswahl, inmitten eines lahmen Wahlkampfes, in dem eher Busspuren als soziale Verwerfungen eine Rolle spielen, hat das Theater am Strom es gewagt, die Geschichte einer obdachlosen Frau für Kinder ab acht Jahren zu inszenieren. Das Wagnis ist mehr als gelungen, der Zeitpunkt vielleicht zufällig.
Verschreckt oder überfordert sind die Kinder nicht. Sie stellen nach der Aufführung Fragen und kommen mit Regisseurin und Schauspielerin von sich aus ins Gespräch. Die Härte einer solchen Biografie macht die Inszenierung deutlich, auch die Bedingungen auf der Straße. Doch es gibt Hoffnung, denn Maria will klar denken und deshalb aufhören zu trinken. Sie erzählt ihre Geschichte und holt sich Hilfe in einer Beratungsstelle. Endlich geht es wirklich weiter, und die Zuschauer verstehen, wer Rita ist.
Das Theater am Strom eröffnet mit „Immer weiter“ das diesjährige Hamburger Kindertheater Treffen
am Fr., 20. März 2015, dem Welttag des Kindertheaters, 18 Uhr im Fundus Theater, Hasselbrookstraße 25 (S-Bahn Landwehr).
Hamburger Kindertheater Treffen, 20. bis 26. März 2015, im Fundus Theater, mit: Theater am Strom, Tandera Theater, Theater Fata Morgana, Theater Mär, kirschkern & COMPES, Figurentheater Uta Gumm, Theater Brekkekekex, Theater Triebwerk, Eckercken Theater, Moving Puppets.
Kartenreservierung: 040 – 25 07 270, Ticketkauf online: www.fundus-theater.de