Text: Angela Dietz / Foto: Nino Herrlich
Nichts ist mehr normal, bis genau das normal ist. So könnte man die Kindersicht auf Krieg und Flucht im neuen Stück von kirschkern & COMPES zugespitzt formulieren. Zu diesem Schluss kommt jedenfalls Toda, die Hauptfigur in „Als mein Vater ein Busch wurde und ich meinen Namen verlor“, gleich zu Beginn. Regisseurin Luisa Taraz hat die Geschichte nach dem gleichnamigen Kinderbuch von Joke van Leeuwen in Szene gesetzt.
Judith Compes‘ Toda besteigt allein den Bus ins Nachbarland, von der Oma mit Keksen und einem Notizheft mit den wichtigsten Daten und Fotos ausgestattet. Im Heft steht die Adresse der Mutter, die schon länger im Nachbarland wohnt. Auch der Vater ist längst fort, bäckt weder Kuchen noch Torten. Der Feinbäcker ist jetzt ein Busch im Feld und muss die einen gegen die anderen verteidigen.
Turmhoch ist die Kriegswelt auf der Bühne von Julia Berndt, eine Trutzburg aus Kleidern, bei denen sich Sabine Dahlhaus für die unzähligen, irrwitzigen Rollenwechsel bedient. Die ebenfalls von Julia Berndt gestalteten Kostüme stecken voller Anspielungen, von der Kappe über das Uniform-Tutu bis zur „Terroristen-Maske“, die sich nur durch die Farbe Pink von der TV-Ikonografie unterscheidet.
Im Nu ist Dahlhaus Busfahrer, als windiger Schleuser mit verspiegelter Pilotenbrille einer TV-Show entsprungen, oder General im Ruhestand, auch skurriles moralisierendes Ersatzeltern-Ehepaar im Versteck, ängstlicher Deserteur, Kommandant, der nicht kommandieren kann, ein Busch wie der Vater sowie Arzt und Amtsperson, die Toda bohrende Fragen stellen in Woanders, dem Aufnahmeland.
Die nun „entkleidete“ Trutzburg, die aus Holzkisten gebaute Stadt, erreicht Toda nach einer wahren Odyssee durch Nacht und Wald; ihre Gruppe hat sie auf dem Weg zur Grenze verloren. Manchmal voller Furcht, aber nie verzagend, stattdessen entschlussfreudig, erreicht sie ihr Ziel auf vielen Umwegen. Mal hilft sie sich mit der Erinnerung an die Tipps in Vaters Handbuch, mal mit Listen, wenn sie im Versteck zu lange warten muss: Lieblingskuchen, liebste Freunde, dickste Menschen.
Ihren Namen verliert das Mädchen schließlich, weil er in der fremden Sprache eine unbekannte witzige Bedeutung hat und deshalb unsagbar wird. Diesem Verlust begegnet Toda mit Pragmatismus.
Ab und an dringt in der Stückfassung von Marie Stolze Komik durch. Die Sprache im fremden Land, eine dem Prosa-Original hinzugedichtete Fantasiesprache mit eigener Grammatik, bringt das Publikum zum Lachen, wenn Compes‘ Toda dekliniert und konjugiert. Und Regisseurin Luisa Taraz wie die Schauspielerinnen nutzen diese Komik, um die Bedrohlichkeit der zuweilen skurrilen oder furchterregenden Fremden, denen Toda begegnet, abzumildern — passend für das avisierte Publikumsalter ab neun Jahren.
So vergisst der Zuschauer weder den Ernst der Thematik noch erdrückt ihn die Bühnenhandlung. In ruhigem Tempo schreitet die trotz allem nie hoffnungslose Geschichte bis an ihr gutes Ende voran, ohne zu romantisieren. Ebenso ruhig bildet Judith Compes als Erzählerin die dramaturgischen Brücken, auch wenn es aufregend wird. An der einen oder anderen Stelle könnten die Szenenwechsel einen deutlicheren Schnitt vertragen, etwa bei der Traumsequenz. Dahlhaus meistert souverän die Rollenwechsel, Compes‘ Kind ist glaubwürdig bis zum Schluss.
Kirschkern & COMPES gelingt mit ihrer jüngsten Produktion eine kindgemäße Thematisierung des wohl brisantesten Themas unserer Tage fürs Theater.