Interview / Schauspiel

„Es gibt keine Kernaussage“

Interview mit Anne Lenk
Interview: Dagmar Ellen Fischer

Für sich annä­hernde Werte hat die Mathe­ma­tik ein Zeichen: ≈. Es bedeu­tet „unge­fähr gleich“. Der Schwede Jonas Hassen Khemiri über­trägt das Symbol auf gesell­schaft­li­che Werte und stellt in seinem jüngs­ten Stück Lebens­per­spek­ti­ven gegen­ein­an­der, die nur im weites­ten Sinn vergleich­bar sind. Regis­seu­rin Anne Lenk bringt „≈ [unge­fähr gleich]“ des erfolg­rei­chen Autors als deut­sche Erst­auf­füh­rung zur Spiel­zeit­er­öff­nung auf die Bühne des Thalia Thea­ters in der Gaußstraße.

GODOT: Das ist Ihre vierte Insze­nie­rung am Haus, besteht eine beson­dere Bezie­hung zwischen Ihnen und dem Thalia Theater?

ANNE LENK: Die gibt es tatsäch­lich. Während meines Studi­ums in Gießen bin ich oft ins Thalia gepil­gert, und 2007 habe ich im Rahmen des Körber Studios Junge Regie in der Gauß­straße eine Regie­ar­beit aus dem Studium gezeigt. Das ist ein Ort voller Erinnerungen.

Khemi­ris „≈ [unge­fähr gleich]“ ist nun Ihre vierte Insze­nie­rung hier …

Ja, jetzt ist es wie Nach-Hause-Kommen. Ich arbeite gern mehr­mals am glei­chen Ort, vor allem, wenn es wie hier gute Gründe gibt für eine Kontinuität.

Welche gibt es für diese Arbeit oder: Wie kam es zum aktu­el­len Auftrag?

Ich suche immer nach rele­van­ten Themen, dennoch gab es nach der Schwere der voran gegan­ge­nen Insze­nie­rung, Elfriede Jelin­eks „Winter­reise“, eine Sehn­sucht nach Leichtigkeit.

Und die hat der Text von Jonas Hassen Khemiri?

Das hat er klug gemacht: Einer­seits ein Thema – unser Wirt­schafts­sys­tem –, das nur schwer zu verste­hen ist, und ande­rer­seits diesen Humor, den ich sehr wich­tig finde. Ich mag Texte, bei denen ich beim Lesen spüre, dass es eine Quali­tät gibt, die ich noch nicht genau benen­nen kann; das führt meis­tens zu einem span­nen­den Proben­pro­zess, weil man häufig erst dann, gemein­sam mit dem Ensem­ble, heraus­fin­den kann, was dieser wirk­lich Text braucht und wie er erzählt sein will. Bei Khemiri stellte sich heraus, dass die Wech­sel der Erzähl­ebe­nen, die seine Texte oft charak­te­ri­sie­ren, auf der Bühne viel inhalt­li­cher sind, als beim Lesen ange­nom­men, wo ich manch­mal dachte, es sei nur ein Spiel mit der Form. Im Thea­ter wird das dann wieder­erkenn­bar, wie aus dem Leben gegrif­fen, nur unter­halt­sa­mer. Und das Ganze kreist um einen Schwer­punkt, mit dem ich mich beschäf­ti­gen möchte.

In diesem Fall das komplexe Wirt­schafts- und Finanzsystem?

Ja, aber unter der Frage­stel­lung: Wie geht es dem einfa­chen Menschen damit? Und das in verschie­de­nen Annä­he­rungs­wei­sen an die Thema­tik, mit der Forde­rung nach Spiel­freude und unter Verzicht auf eine logi­sche Verknüpfung.

Dennoch werden konkrete mensch­li­che Schick­sale beschrieben …

Es gibt zum Beispiel einen Obdach­lo­sen, der es wahn­sin­nig geschickt versteht, den Passan­ten Geld zu entlo­cken. Das beob­ach­tet ein Jugend­li­cher, der aus einfa­chen Verhält­nis­sen stammt und einfach keinen Job findet. Die zentrale Figur aber ist ein Wirt­schafts­wis­sen­schaft­ler, in der Hoff­nung auf eine Profes­sor, der seinen Studen­ten die Augen öffnen will und davon träumt, das System von innen umzu­krem­peln. Dessen Freun­din wiederum, an Luxus gewöhnt, möchte eigent­lich unab­hän­gig auf einem Biohof leben, kann jedoch nicht wirk­lich auf so etwas wie Parfum verzich­ten. Und stellt beispiel­weise die Rech­nung auf: Für ein teures Parfum könnte man in Afrika zwan­zig Mala­ria-Netze kaufen.

Geht über­haupt eine Rech­nung auf oder bleibt alles nur unge­fähr gleich?

Es gibt keine Kern­aus­sage. Der Text ist eine Befra­gung von modell­haft beschrie­be­nen Ist-Zustän­den. Kapi­ta­lis­mus­kri­tisch, ja, aber nicht mora­li­sie­rend. Ich bezweifle, dass es Chan­cen­gleich­heit oder Entschei­dungs­frei­heit wirk­lich gibt. Je mehr Geld, desto mehr Entschei­dungs­frei­heit. „≈ [unge­fähr gleich]“ beleuch­tet auch, wie sehr Sich-gut-Fühlen mit Geld-Ausge­ben zu tun hat.

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