Text: Hans-Peter Kurr | Foto: Anja Beutler
Eine Sternstunde der Begegnung mit gehaltvoller Literatur hat die Hamburger Regisseurin Lydia Spiekermann mit ihrem Rilke-Abend geschaffen, der jetzt wieder im Monsun-Theater zu sehen war – vor leider viel zu wenigen Zuschauern. Bei dieser Arbeit handelt es sich um eine Bühnenfassung der „Aufzeichnungen des Malte Laurids Brigge“ von Rainer Maria Rilke, eine Art ausufernder Familiengeschichte, deren Verständnis die Regisseurin ihrem Publikum durch einen klugen einleitenden Vortrag erleichtert. Ihr hohes Verdienst – nicht nur diese Bearbeitung geschaffen und sie ungemein fantasiereich inszeniert zu haben – wird noch übertroffen durch die Tatsache, dass sie den Schauspieler Erich Fiebiger für sich entdeckte und engagierte. Ihm gelingt es, durch Dichte und Intensität in rund ein Dutzend unterschiedliche Figuren der zahlreichen Familienmitglieder zu schlüpfen.
Ihm zur Seite steht die begabte junge Tänzerin Noémie Naegele und der souveräne Geiger Matthias Weiß mit seiner niveauvollen szenischen Illustration der jeweiligen Seelenlage des Malte. Von dessen Verkörperung durch Erik Fiebiger soll hier zuvörderst die Rede sein: Seine Darstellungsweise dient einer Existenzenthüllung, die – Kraft ihrer bedrängenden Binnenzeichnung – den Zuhörer atemlos werden lässt. Wie diese Binnenschrift, zumeist leise-intensiv, von Regie und Schauspieler gepflegt wird, das enthüllt eine geradezu kammermusikalische Handhabung spiritueller Tongewichte. Und obwohl das Stück der dramatischen Handlung im konventionellen Sinne entbehrt, entsteht ein vollkommenes Sinngewebe, das sich aus punktuellen Werten zusammensetzt, sozusagen aus einzelnen Worten und Metaphern, von außerordentlicher Bildkraft.
Dem Darsteller gelingen Bilder von der Art, die ich eine Suite dichter Visionen nennen möchte. Von daher erklärt sich auch die mitunter auffällige Verknappung der Syntax. Zwar herrscht hier nicht der expressionistische Schrei, wie man ihn bei Rilke vermuten könnte, sondern seine edlere Komponente: die schwebende Andeutung. Nachgerade einen Katarakt bilden die Brüche und Sprünge, die Pirouetten und Degenstöße, die Wirbel der Worte, die diesem Darsteller dergestalt gelingen, dass – trotz aller Clownerie – der Sinn für eine Szene und szenische Wirkung nie verloren geht, zumal dieser Wortprozess sich bei Fiebiger in einem mimischen Ablauf staut, der den Zuschauer zur individuellen Verbildlichung zwingt: eine Symbiose von Regie- und Darstellungskunst.