Highlight / Kinder & Jugend / Kindertheatertreffen 2018 / Kritik

Das Böse

Die Azubis im Fundus Theater
Das Böse

Hartherzige Haubenträgerin: Großmutter (Christopher Weiß, rechts) liest ihrer Tochter (Kai Fischer) die Leviten

Text: Sören Ingwersen | Foto: Die Azubis

Das Märchen „Rotkäppchen und der Wolf“ ist schnell erzählt. In ihrem Klassenzimmerstück „Das Böse“ brauchen „Die Azubis“ dazu nur wenige Musikinstrumente, einen Tageslichtprojektor und zwei Mützen. Christopher Weiß trägt die Fellkappe, Kai Fischer das Käppchen in derselben Farbe wie das Kunstblut, das er jetzt auf die transparente Folie gießt, während der Wolf sich als Schattenfigur auf der weißen Wand die Großmutter einverleibt. Minuten später landet das Raubtier – dem Jäger sei Dank – mit Steinen im Bauch im Brunnen. Das Gute hat gesiegt, das grimmsche Märchen ist zu Ende. Das der Azubis geht jetzt erst richtig los.

Schon zu Beginn des Stücks, das im Rahmen des Kindertheatertreffens 2018 im Fundus Theater erstmals außerhalb einer Schule vor überwiegend erwachsenen Zuschauern aufgeführt wurde, lassen die beiden Schauspieler durchscheinen, worum es ihnen geht: die Vorstellungen von Gut und Böse in den Köpfen der Besucher einmal kräftig durchzumischen. Per Handzeichen sollen diese zu Gewissensfragen Stellung nehmen: „Wer hat schon mal bei einem Test geschummelt?“, „Wer hat schon mal ein Tier getötet, das größer war als eine Maus?“, „Wer hat sich schon mal gewünscht, etwas wirklich Böses zu tun?“. Die Zuschauer tragen Schlafmasken, die Anonymität gewährleisten sollen. Aber was hat das alles mit Rotkäppchen zu tun?

Nachdem der Wolf „etwas blutig aber quicklebendig“ wieder aus dem Brunnen hervorgekrochen ist, bekommen die Rollenklischees der Märchenwelt erste Risse. Ist das Rotkäppchen wirklich nur gut und der Wolf wirklich nur böse? „Ey, du trägst ein Käppchen! Wie doof ist das denn“, frotzelt Christopher. Und Kai erkennt nach dem Rollentausch: „Der Wolf kann so coole Sachen machen!“ – und pinkelt prompt in den Tafelschwammeimer. Das Böse kann sich Freiheiten erlauben, weil es nur seine eigenen Gesetze akzeptiert.

So zeigen bald auch die Großmutter und der Jäger ihre wahren Gesichter, die alles andere als sympathisch sind. Und plötzlich findet man gar nicht mehr so schlimm, dass der Wolf auch mal bissig reagiert. Ohnehin kann man dem Christopher-Wolf, der mit Blockflöte, Keyboard, Gitarre und Gesang für Überleitungen, Untermalungen und pointiert komische Song-Poesie sorgt, nicht wirklich böse sein. Als andererseits der Jäger im Dienst der guten Sache sein Geheimnis der nahtlosen Videoüberwachung offenlegt, schnürt es einem schon etwas die Kehle zu. Und ja, auch wir wurden bei der angeblich anonymen Abstimmung aufgezeichnet und werden jetzt vor aller Augen bloßgestellt. Und das mit gutem Grund: Denn nur wer Böses im Schilde führt, hat etwas zu verbergen. Oder führen Menschen, die solches behaupten, womöglich selber Böses im Schilde? Gut und Böse – die Begriffsbedeutungen scheinen mit einem Mal fließend in dieser äußerst kurzweiligen Performance auf hohem schauspielerischem Niveau, mit der Christopher Weiß und Kai Fischer vermeintliche (Märchen-)Gewissheiten ins Wanken bringen.

Höchste Zeit, wieder festen Boden unter die Füße zu bekommen: mit einem gemeinsamen Gang auf die Straße, um dem erstbesten Passanten einen Blumenstrauß in die Hand zu drücken und einfach mal Danke zu sagen. Die Mutter am Hauseingang ist sichtlich gerührt, doch ihr kleines Kind erschrickt vor der applaudierenden Menschengruppe und ergreift weinend die Flucht. Manchmal ist es gar nicht so leicht, Gutes zu tun.

Hinterlassen Sie einen Kommentar

Deine E-Mail-Adresse wird nicht veröffentlicht. Erforderliche Felder sind mit * markiert

*