Text: Sören Ingwersen | Foto: Iris Holstein
Mit großem Tratra wird das Plenum eröffnet. An einer u-förmigen Tischreihe sitzen die Zuschauer, die Schauspieler Johannes Nehlsen als „Abgeordnete“ begrüßt. Vorne auf dem Podium führt sich die „Expertenkommission“ wie eine Gruppe wilder Cheerleader auf. Willkommen in der „theatralen Versammlung“ „Der Hamburger Kodex“, mit der Regisseurin Julia Hart und ihr sechsköpfiges Ensemble – bestehend aus drei Schauspielern und drei Schülern – das Publikum 90 Minuten lang zum Nachdenken über Gerechtigkeit und Moral anregen. Da werden Süßigkeiten an alle Anwesenden verteilt – nur eine Besucherin geht leer aus. Wie fühlt sie sich dabei? Da klaut ein Schüler dem anderen eine Mandarine. Soll der, der den Diebstahl beobachtet hat, seinen besten Freund verpetzen? In der Mitte des Raumes werden verschiedene Varianten der Szene durchgespielt. Erstaunlicherweise enden fast alle gleich, denn was unsere Handlungen letztendlich bewirken, liegt nicht in unserer Macht. Ist es also allein die gute Absicht, die zählt?
Die Liste mit den Verhaltensregeln auf dem Papier an der Wand wird immer länger: Man darf nicht lügen, nicht klauen, nicht petzen. Aber man soll teilen, ganz im Sinne der Chancengleichheit. Wo sie missachtet wird, kommt es zum Prozess – wie bei der Sache mit dem Fisch. Als farbenfrohes Flossentier steht Schülerin Tara Hein in der Mitte des Raumes. Vorn hat Kristina Bremer ihre Richterperücke übergestülpt, hinten in den Ecken stehen Leonie Bobrick und Levi Mallioras als Fischer und Möwe, flankiert von ihren Anwälten. Geklärt werden soll: Wer hat ein Anrecht auf das Leben des Fisches? Gefragt wird dabei nicht: der Fisch. So geht die hitzige Verhandlung an dem vorbei, den sie am meisten betrifft. Der Prozess ist eine Farce und wird auch so dargestellt, obwohl es ja eigentlich um etwas Ernstes geht. Zwischen diesen beiden Polen kann sich das Stück „Der Hamburger Kodex“ nicht wirklich entscheiden und fingiert eine demokratische Einbeziehung des Publikums, die es letztlich nicht einlöst. Das Applausometer wird bei Abstimmungen per Hand bewegt und für einzelne Meinungsäußerungen mischen sich die Darsteller unters Publikum, anstatt dieses selbst anzuhören – etwa bei der Frage, ob man töten darf, wenn dadurch mehrere Leben gerettet werden können.
Kaum ist der Kodex für ein besseres menschliches Zusammenleben erstellt, reiß Florian Weigel als singend randalierender „Fehler im System“ das hart erarbeitete Papier wieder von der Wand, während die Expertenkommission zu einem Pulk von Untoten mutiert. Eine unerwartete Wendung. Einige zerknüllte Reste des Regelkanons werden dann wieder halbherzig an die Tafel gepinnt. Was sollen Zuschauer ab 10 Jahren dabei lernen? Dass Regeln nicht nur stur befolgt, sondern im Einzelfall auch hinterfragt werden müssen oder sogar missbraucht werden können. Sehr viele Themen wurden bei dieser Aufführung im Rahmen des Kindertheatertreffens 2019 angeschnitten, wobei eine Regel außer Acht blieb: dass weniger manchmal mehr ist.