Text: Christian Hanke / Foto: Lea Fischer
Ganz in Weiß gekleidet ist „die Möwe“, das unschuldige Mädchen vom Lande, das die große weite Künstlerwelt bewundert. Da will sie hin. Aber nicht mit Konstantin, dem jungen Dichter, der ganz Sturm und Drang, die Welt der Eltern zertrümmert, mit ganz neuen Formen, nie Dagewesenem. Doch sein Stück fällt bei der ersten Aufführung hoffnungslos durch, was den Autor in eine tiefe Sinnkrise stürzt. Unglücklich verliebt ist er auch, eben in Nina, die „Möwe“, die aber den über sein Künstlerdasein jammernden Schriftsteller Trigorin verehrt, der wiederum der Liebhaber von Konstantins egomanischer Mutter Irina Arkadina ist, einer gefeierten Schauspielerin, die ihrem Sohn ständig sein Mittelmaß vor Augen hält. Unglück allerorten. Niemand erreicht sein Ziel. Über die Kunst wird trefflich gestritten.
Alle Personen in Anton Tschechows Klassiker „Die Möwe“ lamentieren oder verzweifeln in trauter Runde auf dem Landgut von Arkadinas Bruder Sorin, einem jammernden Griesgram, der sein ganzes Leben, privat wie beruflich, verpasst hat. Nicht zu vergessen die ganz in Schwarz gekleidete Mascha, die um ihr Leben trauert, nicht weiß, wo sie hingehört und sich in der Thalia-Inszenierung kräftig zukokst, vergeblich verehrt vom biederen Lehrer Medwedenko. Ach, und auch Polina kommt nicht zum Zuge. Die Frau von Sorins Gutsverwalter läuft vergeblich dem Arzt Dorn hinterher, einem früheren Playboy.
Klar und unerbittlich bringt Tschechow gescheiterte Lebensentwürfe auf die Bühne. Mit einer liebenswerten Schlichtheit spielen die großartigen Schauspieler ihre Rollen. Einfach, deutlich, intensiv. Birgit Schnöink ist eine wunderbar naive Landpomeranze. Jens Harzer zeigt als Trigorin erneut fast tonlos über jeden Zweifel erhabene Schauspielkunst. Ebenso mit viel Temperament Barbara Nüsse in der Rolle der Arkadina. Mit großartigen Momenten agieren Wolf-Dietrich Sprenger als kauziger Greis Sorin und Marina Galic in der Rolle der selbstzerstörerischen Mascha. Dazu Sebastian Zimmler, Cornelia Schirmer, Matthias Leja, Julian Greis. Was für ein Ensemble! Ganz schnörkellos dürfen sie ihre große Kunst in Leander Haußmanns auf die Schauspieler konzentrierte Regie auf einer fast leeren Bühne zeigen. Nur ein paar Plastikgartenstühle vermitteln Provinzmief.
Erst am Ende wird mehr Bühnenbild aufgefahren: Zahlreiches Kerzenlicht schwebt über einer großen Tafel, an der sich die Landgutgäste wie zu einem Totenmahl versammeln. Jetzt entfaltet auch der große rote Vorhang, der vorher gebündelt wie ein Kaminschlot im Hintergrund hing, seinen ganzen Umfang – und umgibt so die Gescheiterten, die ihrem Unglück zum Trotz wenigstens ein Tänzchen wagen. Ein kleiner weißer Vogel kreist über der Szene – und wird abgeschossen.