Text: Dagmar Ellen Fischer | Foto: Klaus Lefebvre
Sogar unfreiwilliges Hinauszögern steigert die Spannung. Auch im Theater. Und so lag etwas Flirrendes in der Foyer-Luft am späten Nachmittag des 18. Januar 2014, als das schönste und größte Sprechtheater Deutschlands mit zwei Monaten Verspätung endlich offiziell eröffnete: Schauspielhaus-Intendantin Karin Beier schickte „Die Rasenden“ über die renovierte Hamburger Bühne. Das Spektakel begann um 17:10 Uhr und endete gegen 23:35 Uhr, dazwischen lagen zwei Pausen und nicht weniger als die äußerst kurzweilig erzählte abendländische Menschheitsgeschichte.
Der gemeine Westeuropäer verweist gern auf das antike Griechenland, wenn es darum geht, die kulturellen Wurzeln seines Kontinents auszubuddeln. Auch ich stolperte als Jugendliche über Homer, verliebte mich in Odysseus und erlebte den Trojanischen Krieg, als sei ich in sicherer Entfernung auf einem Hügel dabei gewesen. Dieses archaische Kopfkino erfuhr durch „Die Rasenden“ eine weitere Erschütterung: Odysseus war kein Held, ok, sondern ein erfolgreicher, weil gnadenloser Feldherr, der sogar Neugeborene töten ließ. Doch für Karin Beiers Inszenierung ist er so unwichtig, dass er noch nicht einmal als Figur auftritt. Die Regisseurin hat eine andere Perspektive: „Ihr Männer aus Europa, ihr verachtet Asien und Afrika“, heißt es an exponierter Stelle. Und sie führt den Gedanken mit aktueller Konnotation fort: Europäer nennen Afrikaner und Asiaten Barbaren, doch ausgerechnet die Griechen wüteten vor den kleinasiatischen Toren Trojas geradezu barbarisch.
Aus eigentlich nichtigem Anlass: Helena. War die schönste Frau der Antike ein blondes Luxusweibchen, das sich vom Prinzen Paris verführen ließ, weil er damals als beste Partie Kleinasiens galt? Oder war sie ein entführtes und vergewaltigtes Opfer, vom eitlen Paris einer Trophäe gleich in die Fremde verschleppt? Allein die Sach-Ebene betrachtend, kann man im kriegsauslösenden Konflikt auch nur die Erfüllung einer Weissagung sehen, denn Prinz Paris war zuvor aus berufenem Göttinnen-Mund die schönste Frau seiner Zeit versprochen worden – ungeachtet der Tatsache, dass die bereits mit dem Griechenkönig Menelaos verheiratet war. Kann man überhaupt eine Wahrheit finden, wenn es um den Auslöser des Krieges, irgendeines Krieges geht? Und können sich Menschen jemals frei entscheiden? Solche Fragen treiben Karin Beier und das Publikum im ersten Teil um, der auf „Iphigenie in Aulis“ von Euripides sowie auf „Die Troerinnen“ nach Euripides basiert, bearbeitet von Jean-Paul Sartre.
Apropos Iphigenie: Der unfreiwillig frauenfreie und beleidigte Menelaos hat einen Bruder, Agamemnon, ebenfalls (einfluss)reich; beide versammeln eine hochgerüstete Flotte um sich, die Helena zurückholen will. Doch beim geplanten Aufbruch Richtung Troja weht nicht der leiseste Hauch eines Lüftchens, kein Schiff kann folglich lossegeln. Bis die Götter verlautbaren lassen, wo es klemmt: Agamemnon (Götz Schubert) müsse zunächst seine Tochter Iphigenie töten, erst das Menschenopfer sorge für den nötigen mediterranen Fahrtwind. „Wenn das jeder Segler machen würde …“ kommentiert später zynisch einer der drei sogenannten „Wohlmeinenden“ (Joachim Meyerhoff).
Und dann beginnt der Krieg. Historisch überliefert als zehn Jahre dauerndes, verheerendes Gemetzel mit aussichtslosem Ende: Troja ist eine uneinnehmbare Festung, die Griechen haben keine Chance – wäre da nicht diese tierische List des Odysseus (aber auch dessen berühmtes, hölzernes Pferd, das Troja schließlich zu Fall brachte, läuft in Hamburg nur am Rande mit). Karin Beier inszeniert keinen Krieg, sie lässt ihn akustisch anheben, als Komposition von Jörg Gollasch. „Eine große Stadt versank in gelbem Rauch“ heißt die unter die Haut gehende Musik, intoniert vom Ensemble Resonanz und einem Chor aus Schauspielerensemble und Sängerinnen der Sängerakademie Hamburg. Auf dem verwüsteten Schauplatz sehen die Frauen Trojas nach Trojas Untergang ihrem Schicksal entgegen, wie alle Frauen auf den Schlachtfeldern dieser Welt: Sie sind Beute und Verfügungsmasse der männlichen Sieger, sie bewegen sich unsicher auf unebenem Sandboden, der sich allmählich dunkel färbt.
Nach diesem ersten Teil erlaubt die einstündige Pause dem Publikum etwas Abstand vom groß(artig)en Grauen. Das zweite und damit Mittelstück des Abends dreht sich um Agamemnon, fußend auf dem Drama von Aischylos in der deutschen Fassung von Peter Stein. Am Hofe des Griechen-Königs trifft die Nachricht vom Ende des Krieges auf eine sich selbst genügende Gesellschaft, die längst bestens ohne Hausherr funktioniert. Da die Meldung per Rauchzeichen schneller ist als der müde Krieger selbst, hat dessen Frau Klytaimnestra (Maria Schrader) genügend Zeit, ihre Rache vorzubereiten: Dass ihr Gatte die gemeinsame Tochter Iphigenie zehn Jahre zuvor zugunsten günstiger Winde opferte, kann sie nicht verzeihen; doch auch für Agamemnons Kriegstrophäe in der schönen Gestalt der trojanischen Königstochter und Seherin Kassandra als neue Mitbewohnerin kann sie sich nicht begeistern; ihre Vergeltung ist heimtückisch und blutig. Der zweite Akt der „Rasenden“ ist voller Brüche, die mitunter Rhythmus und Pathos der Sprache erfrischend unterwandern, bisweilen aber auch auf ein witzelndes Niveau abrutschen, um den Kontakt zum Publikum herzustellen und Lacher zu provozieren.
In der zweiten Pause begegne ich Gesichtern aus der ersten wieder, dennoch will sich kein geselliges Gemeinschaftsgefühl einstellen, wie bei anderen Theatererlebnissen von vergleichbarer Überlänge. Aber eben auch kein bisschen Müdigkeit, die Stunden verfliegen und um 22 Uhr beginnt der dritte und letzte Teil.
Geduldig erwartet „Elektra“ das Publikum nach der Pause; ungeduldig hingegen wartet sie auf die Rückkehr ihres Bruders Orest. Starren Blickes liegt Elektra (Birgit Minichmayr) unterhalb des Bühnenbodens, dort wird sie aus zwei Perspektiven gefilmt, und diese projizierten Bilder lassen sie übermenschlich groß auf zwei Projektionsflächen im Bühnenraum präsent werden. Auch sie ist eine Tochter des Agamemnon und der Klytaimnestra und sehnt den Moment herbei, da sie im Schulterschluss mit dem Bruder die Mutter samt neuem Mann Ägisth (Markus John) töten kann, um den Mord am Vater zu sühnen. Orest kommt, sieht und mordet, „in Gottes Auftrag“ – was aus dem Mund eines antiken Rächers genauso lächerlich klingt wie aus jenem heutiger Selbstmordattentäter.
Hier geht es zur Besprechung von Hans-Peter-Kurr.
Aufführungen: 24.1., 17 Uhr; 9.2., 15 Uhr; 22.3., 17 Uhr; 30.3., 16 Uhr, Deutsches Schauspielhaus