Text: Anton Adrian | Foto: Oliver Proske
Die Performer von „Nico and the Navigators“ beweisen in ihrer Inszenierung „Die Stunde da wir zu viel voneinander wussten“ auf Kampnagel bei vielen Szenen ein gutes Gespür für Alltagsbeobachtungen und Stimmungen: Menschen, die hektisch durcheinander und aneinander vorbei laufen, stoßen immer wieder abrupt zusammen, so dass es zu kurzen Momenten der Nähe kommt, bevor alle wieder weiter hetzen. Es ist ein Spiel mit Gegensätzen und Kontrasten: Melancholische Lieder und Momente stiller Poesie, wenn zum Beispiel Zeitungen im Wind tanzen, werden immer wieder von aggressiv-fröhlichen Business-Menschen und ihren alles dominierenden Smartphones gestört. Allerdings werden diese diametralen Gegenüberstellungen so häufig und so überspitzt verwendet, dass sie leider sehr vorhersehbar sind. Gleiches gilt für die stereotypen Zeitgeist-Menschen, die hier ihren Weg auf die Bühne finden: Egal ob penetrante Sport- und Karrieretypen oder skurrile Exzentriker und Freaks – sie alle sind lediglich eindimensionale Abziehbildchen, reine Klischees. Keine Spur von Ambivalenz oder Komplexität. Und warum muss immer wieder ein kleiner Hund im Paillettenkleid auf dem Arm einer exzentrischen Sängerin wie eine Handtasche über die Bühne geschleppt werden? Klar, Hunde oder Männer in Frauenkleidern sorgen auf der Bühne immer für Aufmerksamkeit und (leider immer noch) oft für sichere Lacher. Aber sie fallen auch in die Kategorie Effekthascherei und tragen nicht unbedingt zu mehr Tiefe oder inhaltlicher Auseinandersetzung bei.
Die Stärke von Nico und die Navigatoren liegt eindeutig im Bereich der Choreografie und der Musik, die immer wieder für skurrile und melancholische Momente sorgen. Mehrdeutigkeit und Vielschichtigkeit zählen leider weniger zu ihren Stärken. Besonders deutlich wird dieser Hang zu plakativen Eindeutigkeiten in den Texten, die das Stück von Peter Handke, das eigentlich lediglich Regieanweisungen und keinerlei Dialoge enthält, ergänzen: Wenn zum Beispiel der junge, aktive und attraktive Jogger der alten Frau ihre Nutzlosigkeit detailliert schildert, wirkt dieser Monolog weniger wie eine Zuspitzung, sondern wie eine Vereinfachung. Dem Zuschauer wird es hier sehr leicht gemacht, sich über die eindimensionalen Stereotypen auf der Bühne zu amüsieren oder den Kopf über sie zu schütteln, ohne sich Fragen nach eigenen Verflechtungen in komplexe Phänomene wie Partikularisierung, Flexibilisierung und Mobilisierung der Gesellschaft stellen zu müssen.
„Die Stunde da wir zu viel voneinander wussten“ bemüht sich darum, den schnelllebigen und oberflächlichen Zeitgeist einzufangen und vorzuführen, bleibt dabei aber leider zu plakativ und auf Unterhaltung und Gefallen bedacht, so dass die dargestellten Phänomene lediglich reproduziert werden.
Weitere Vorstellung: 26. April, 20 Uhr, Kampnagel
Ob Peter Handkes eigenwilliges Stück „Die Stunde da wir nichts voneinander wussten“ auch ohne ergänzende Texte auskommt, kann man ab 30. April 2015 in der Regie von Tiit Ojasoo und Ene-Liis Semper am Thalia Theater überprüfen.