Text & Kollage: Adrian Anton
New York, Mitte der 1980er Jahre: Entfremdung, Vereinsamung, Hedonismus, AIDS, das Ozonloch, Reagan und natürlich Geld regieren die Welt, die von Gott verlassen wurde — wie wir in „Engel in Amerika” erfahren. Regisseur Bastian Kraft, der zuletzt virtuos „Die Sehnsucht der Veronika Voss” nach dem gleichnamigen Film von Rainer Werner Fassbinder im Thalia Gaußstraße inszenierte, bringt mit „Engel in Amerika” wieder einen filmischen Stoff auf die Bühne: Das gleichnamige Theaterstück von Tony Kushner wurde 2003 als HBO-Fernsehserie verfilmt und mehrfach ausgezeichnet. Entsprechend filmisch, multi-medial und mehrdeutig präsentiert sich auch die Inszenierung: Die Bühne (von Peter Baur) wird von einer riesigen runden Leinwand dominiert, die entweder als Projektionsfläche oder als riesiger Spiegel fungiert. Durch mehrere Kameras sind die Darsteller somit meist aus mehreren Perspektiven gleichzeitig zu sehen: Frontal auf der Leinwand, im Profil auf der Bühne. Close-Ups zeigen die Gesichter häufig so überlebensgroß, dass sogar die Poren der Haut zu sehen sind.
Wie durch ein Vergrößerungsglas werden im schnellen Wechsel, die an Film-Cuts erinnern, mehrere Handlungsstränge und -ebenen nachgezeichnet: Da ist der AIDS-kranke Prior Walter (unprätentiös von Kristof Van Boven gespielt), der von seinem Partner Louis (Julian Greis) verlassen wird, weil dieser Angst vor Verantwortung hat. Anwalt und Mormone Joe Pitt (Oliver Mallison) ist mit der unglücklichen Harper (überzeugend: Alicia Aumüller) verheiratet, die sich in Halluzinationen und Tabletten flüchtet, während er selbst seine Homosexualität entdeckt und eine Affäre mit Louis beginnt. Joe und Louis arbeiten für den schmierigen und machtgeilen Top-Anwalt Roy Cohn (leider von Matthias Leja etwas zu sehr zur Karikatur geraten), der sich mit HIV infiziert und im Sterben vom Geist Ethel Rosenbergs verfolgt wird, deren Hinrichtung er 1951 bewirkt hatte. Dann sind da noch die streng gläubige Mutter von Joe (Sandra Flubacher überzeugend und klischeefrei wie immer) und der schwule Krankenpfleger Belize (von Ernest Allan Hausmann zwar voller Klischees, aber mit viel Respekt gespielt), der Roy Cohn pflegt und der beste Freund von Prior ist. Und schließlich ist da noch der Engel (wunderbar dank Marie Löckers eindringlicher Präsenz), der Prior als Botschafter erscheint, um den Menschen vor dem „Virus der Zeit” zu warnen – doch damit ist nicht etwa HIV gemeint, sondern der rücksichts- und kopflose Fortschritt der Menschen, die wie unwissende Kinder vorwärts trampeln.
Die Botschaft von „Engel in Amerika” ist klar: Toleranz bleibt eine Utopie, die Realität wird von rassistischen, sexistischen und macht-politischen Diskriminierungen bestimmt. Aber dadurch bleiben auch keine Fragen offen und die Message geht etwas im multi-medialen Entertainment unter – was eine gewisse Tragik birgt, da genau diese Schnelllebigkeit und inhaltliche sowie emotionale Verflachung im hedonistischen Streben nach Ablenkung und Realitätsflucht ja Thema sind.
Weitere Vorstellungen: 29.10., 18., 28. und 29.11., 7.12.15 sowie 1. und 15.1.16, Thalia Theater