Kritik / Schauspiel

Enter Hamlet – Ein digitales Familiendrama

Die Azubis im #lichthof_lab des Lichthof Theaters

Botschaften aus dem Datenjenseits: Bei den Azubis wird das Smartphone zum Sarg

Text: Angela Dietz / Foto: Kai Fischer

„Lass dich ruhig von ihr trösten.“ Königin und Mutter Gertrude wähnt Ophelia im Zimmer bei Sohn Hamlet und spricht durch die Tür. „Die Kondome sind oben im Schrank – falls du welche brauchst.“

Damit sind wir mitten im digitalen Familien-Kammerspiel der Azubis und sehen Christopher Weiß als Gertrude auf dem Bildschirm, wie er sich das Kleid etwas von den Schultern zieht, mit dem Gesicht nach vorn geneigt, als ob er auf Antwort lausche. Gleich wird Gertrude ohne Antwort abzuwarten eintreten, mit einem Teller Apfelschnitze in der Hand. Der fürsorglich kontrollierende Auftritt der Mutter folgt dem Verhütungsapell an den erwachsenen Sohn.

Sehr komprimiert sehen und hören wir an dieser Stelle thematisch, dramaturgisch und technisch (Andreas Albrecht), worum es in „Enter Hamet“ geht, einer digitalen Theater-Inszenierung, bei der sich Schauspieler und Zuschauer nicht im gleichen physischen Raum befinden. Wohin sich der Schauspieler neigt, vermuten wir die Kamera und stellen uns gleichzeitig die verschlossene Zimmertür von Hamlet vor. Vielleicht sind wir selbst Hamlet und genervt von Mutters Aufdringlichkeit, peinlich berührt von den „Kondomen“.

Wir, das sind rund 20 Premierenzuschauer, die Zuhause vor dem Bildschirm sitzen. Gesehen haben wir uns vor Vorstellungsbeginn im virtuellen Foyer, auf einem Splitscreen, winkend in vielen kleinen Kästchen. Hier ersetzt die technische, sehr geduldige und fröhliche Einweisung die vorfreudigen Plauderei.

Eben noch die Intimsphäre ihres Sohnes in der Familienenge missachtend, wird Gertrude gleich, wie angekündigt, hinunter gehen zu Hamlets neuem „Vater“, dem Patchwork-Vater Claudius. Was uns hier als eine bekannte und relativ übliche Grenzüberschreitung erscheint bei Familienmitgliedern, die aufeinander hocken, findet seine Überspitzung in sexualisierter Gewalt.

Der Ratgeber des Königs, Polonius (Christopher Weiß), könnte ein solches Verhältnis zu seiner Tochter Ophelia haben, wie die Inszenierung andeutet. Er macht sich fein für seine Tochter, mit der er spricht, in deren Richtung er gestikuliert, die aber nicht im Bild ist. Beklemmung macht sich breit. Schließlich tanzt er mit einer Schaumstoffpuppe. „Leg dich hin.“ Mit diesem Satz bleibt der Zuschauer zurück und ist gefordert zu überlegen, was er grad gesehen hat.

Dramaturgisch von Kaja Jakstadt aufs Feinste ausgeklügelt, verbinden und überschneiden sich das klassische Stück Shakespeares mit der digitalen Inszenierung während der Pandemie. Fein, obwohl die Ebenenwechsel des Textes manches Mal drastisch sind – und zum Lachen. Sogar ein Sketch aus Loriots Zeichentrick-Eheszenen („Das Ei ist hart“) findet Eingang in die Inszenierung, der sich zwischen Polonius und Ophelia abspielt und zum Verweis auf das missbräuliche Verhältnis wird. Diese Ophelia will aus handfesten Gründen mit Hamlet abhauen, nicht nur aus schwärmerischer Liebe.

Besonders hervorzuheben ist das Shakespear’sche Spiel im Spiel, dass die Azubis nutzen, um die Vorgeschichte der Tragödie in Szene zu setzen: die Brudermordgeschichte. Das Ganze ist überwiegend grau gezeichnet und wird für den Zuschauer als Bilderbuch aufgeblättert. Die Zeichnungen sind  – vielleicht kann das diese Kunst am allerbesten – in ihrer Zugespitztheit ein wunderbares Mittel, Claudius’ Gefühle und Träume zu verdeutlichen, dabei sehr poetisch. Zunächst will der jüngere Claudius die Anerkennung des Älteren, eifert ihm nach, muss aber häufig zurückstecken. Als eine Frau auftaucht – Gertrude – begehrt Claudius sie ebenso wie Hamlet, der Ältere. Die Tragödie nimmt ihren Lauf.

Technisch gefordert sind die Spieler, das Glas, mit dem sie sich zuprosten, auf der richtigen Höhe am Bildrand zu halten, damit wir sehen, was eigentlich nicht der Fall ist, dass sie die Gläser aneinanderstoßen. So banal die Geste, ist sie hier nicht einfach herzustellen. Die Übergänge per Cut, Split oder Ausblendung sind der Filmtechnik entlehnt und oft zum Schmunzeln.

König Hamlets Geist spricht aus dem Smartphone, „verkörpert“ von einem weißen, gesichtslosen Legomännchen. Die Friedhofsszenen finden als Legospiel statt, gesprochen wird aus dem Off. Nie wird diese Spielzeugtheater albern, es gelingt sogar, Grusel, Verwirrung und Melancholie zu vermitteln.

Die Schauspieler wechseln hochkonzentriert die Ebenen von Shakespeare- und Gegenwartstext sowie die Geschlechtsrollen und suggerieren überzeugend den nicht vorhandenen Raum. Ein Kraftakt, der ihnen trotz der Mühen meist locker gelingt. Neben Christopher Weiß und Lisa Apel, die nicht nur Ophelia gibt, sondern auch einen groben, amüsanten Claudius, führt Kai Fischer mit sanfter, aber bestimmter Hand die Figürchen und spielt den Hamlet. Am Ende zieht er einen Zettel von der Kameralinse, damit wir ihn sehen können. Vielleicht sieht auch er jetzt klar.

Das Gemachte der Situation ist in jedem Moment sichtbar, manchmal rückt es in den Vordergrund, etwa wenn der Sohn des Schauspielers am Ende seine Legofiguren zurückfordert. „Enter Hamlet“ zeigt auch, wie in Zeiten der Pandemie sich – noch mehr als sonst im Leben eines Künstlers – Privates und Arbeit miteinander mischen, auch ganz alltagspraktisch.

Die Azubis haben mit diesem digitalen Kammerspiel nach Shakespeare die Möglichkeiten des Theaters in Zeiten der Pandemie ausgelotet und eine ebenso spannende wie amüsante Inszenierung geschaffen. Dabei klammern sie „bleischwere“ Themen wie Gewalt in der Familie nicht aus und lassen dem Zuschauer Raum für eigene Schlüsse.

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