Die Jüngste ist acht, die Älteste 78: Zusammen werden die 30 Laienschauspieler aus St. Pauli – nach den erfolgreichen Performances der letzten Jahre – ab dem 28. April wieder den öffentlichen Raum ihres Viertels erobern – vorbei an Kneipen, Kliniken und architektonischen Objekten der Gentrifizierung, über Brücken und durch Parks. Im Schlepptau jedes Mal gut 120 Zuschauer, die wissen wollen, wie das eigentlich ist auf St. Pauli. Oder wie es war. Was noch übrig ist vom Viertel und was nur noch Kulisse für von weither angereiste Touristen. Seit September laufen die Proben für „FunParkFiktion“, die aktuelle Theaterproduktion der GWA St. Pauli (GemeinWesenArbeit, in Kooperation mit Theater am Strom und dem Trägerverein Gesundheitszentrum St. Pauli e. V.).
Ein Abend im März, ziemlich kühl für eine Probe im Freien. Regisseurin Alina Gregor dirigiert die Schauspieler, die die FunPark-Crew bilden, über den Platz vor dem Atlantikhaus an der Bernhard-Nocht-Straße. Chorisch exaktes Sprechen ist schwer, die Regisseurin unnachgiebig. An diesem Abend geht es auch um die Aufstellung der Choristen. Wenn die Kostüme von Heike Hallenga erst fertig sind, wird der Chor als FunPark-Crew in seinen schwarzen Jacketts, weißen Kragen und weißen Ärmelstulpen an jeder Station, an der während des Theaterrundgangs später gehalten wird, auch Bühnenbild sein. Vor dem Atlantikhaus bilden sie einen Halbkreis und damit den Hintergrund, vor dem die eigentliche Szene abläuft: Eine Koberin hat die Menschen in die Arme einer Casting-Agentur getrieben, die für einen Film über St. Pauli geeignete Kandidaten sucht. Der Chor kommentiert, greift ein, zieht weiter. Wieder und wieder wird die Szene geprobt, bevor es Richtung Gesundheitszentrum geht. Dort soll der Chor zu einer Gruppe stöhnender Voyeure werden und der Zuschauer verführt, es ihm gleichzutun – Übergriff, Grenzüberschreitung, Konfrontation mit dem Privaten.
Das Textbuch für „FunParkFiktion“ ist ein klassischer Work in Progress. Christiane Richers, die für alle GWA-Theaterproduktionen der vergangenen Jahre die Bücher geschrieben hat, hatte auch diesmal – zusammen mit Produktionsleiterin Christine Filipschack – die Ausgangsidee für das Stück. Arbeitstitel: „Kapitalverbrechen“. Wie das mit einer sich wöchentlich treffenden Laienspielgruppe umgesetzt werden könnte, war anfangs schwer vorstellbar. Andererseits sind Kapital und Verbrechen in St. Pauli präsent wie in keinem anderen Stadtteil und allen irgendwie bekannt und unangenehm. Selbst event-architektonisch steht das Quartier der Hafencity in nichts mehr nach. Parallel zu den Proben entstand das Theaterstück. Christiane Richers verarbeitete das Material, das in der schauspielerischen Improvisationsarbeit unter Anleitung von Alina Gregor mit den Darstellern entstand, aus Improvisationen und Gesprächen, zu einem immer dichter werdenden Text über die Verhältnisse im Stadtteil. Im Mittelpunkt stehen die Kinder von St. Pauli, die in ihrem mobilen Museum alles sammeln, was sie an ihrem Stadtteil schätzen und was auf keinen Fall verloren gehen soll. An ihrer Seite: die beiden Alten Paul und Paula. Jugend und Weisheit, Vergangenheit und Zukunft geraten in die Konfrontation mit den Event-Okkupanten des Kapitals, die wenig Interesse an gewachsenen Strukturen haben. Für sie zählt der schnelle Erfolg, die Neubesiedelung mit Geldgewerbe, die Ausrufung des Stadtteils als FunPark. Einzelne Geschichtenfragmente, Erzählungen und Erinnerungen hat Autorin Christiane Richers zu einer zweistündigen Collage zusammengefügt.
An dieser Produktion ist – außer der realen Ausgangsvoraussetzungen – alles übertrieben. Und es geht immer noch mehr. Alina Gregor setzt in ihrer Inszenierung auf die permanente Überhöhung mit theatralischen Mitteln. „Wir wollen nicht politisch korrekt sein“, sagt die Regisseurin, „sondern Platz schaffen für Sarkasmus und Ironie.“ Theaterarbeit mit Laien, noch dazu im eigenen Stadtteil und die eigene Situation reflektierend, muss eben nicht zum Sozialkitsch verkommen. FunParkFiktion beweist, wie spannend es ist, wenn an der Schnittstelle zwischen Professionalität und Leidenschaft eben nicht nur Betroffenheit entsteht, sondern Theater, das sich mit künstlerischen Mitteln in den Alltag der Menschen einmischt.
Dass die Theaterproduktion dabei selbst Event werden und im Glitzer des neuen St. Pauli mitschwimmen oder untergehen könnte, ist nicht anzunehmen. Dafür ist, wie Produktionsleiterin Christine Filipschack findet, der Grad an Authentizität zu hoch. „Wer hier mitspielt, ist nah an sich selbst und seiner eigenen Biografie“, sagt sie. Die Lebensläufe sind nicht ausgedacht, sondern verarbeitet.
Premiere von FunParkFiktion ist am 28. April (18 Uhr). Treffpunkt ist vor dem Atlantikhaus. Die Szenen spielen an neun verschiedenen Orten, zu denen eine Koberin Zuschauer, FunPark Crew, die Kinder und die Alten unaufhörlich treibt. Weitere Stationen sind u. a. das Gesundheitszentrum in der Bernhard-Nocht-Straße, die Allee Richtung Hafen, die Kersten-Miles-Brücke und der Alte Elbpark rund um das Bismarckdenkmal. Möglich gemacht haben die Produktion verschiedene Stiftungen, darunter die Auerbachstiftung, die Behörde für Kultur der Hansestadt Hamburg, der Fonds Soziokultur, die Friede Springer Stiftung, die Stiftung Maritim Hermann & Milena Ebel, die Paul- und Helmi-Nitsch-Stiftung, die Preuschhof-Stiftung und die Kurverwaltung St. Pauli e. V.
Mitwirkende: Bewohner von St. Pauli
Inszenierung und Regie: Alina Gregor
Textbuch und Dramaturgie: Christiane Richers (Theater am Strom)
Musik: Eva Brüggemann
Kostüm: Heike Hallenga
Bühnenbild: Tina Erosova
Produktionsleiterin: Christine Filipschack
Weitere Vorstellungen: 4./5. Mai, 1./2. Juni, 24./25. und 31. August und 1./7. und 8. September.
Karten gibt es im Vorverkauf unter 040-3193623 oder www.gwa-stpauli.de.
Text: Stephanie Schiller
Foto: Kristina Wedekind