Kritik / Schauspiel

Geschichten hoch im Trend

„Kaltstart“ 2011, Haus III&70 u.a.
Kaspar

„Kaspar“ vom Thea­ter Bonn // Foto: Thilo Beu

Dieses Jahr währte das „Thea­ter­fes­ti­val Kalt­start“ ganze drei Wochen, und zwar vom 13. Juni bis zum 2. Juli an einer Reihe von Orten. Die Zündung klappte ohne Start­schwie­rig­kei­ten. Das Kultur­haus III&70 konnte pünkt­lich zum Start gleich mit drei Bühnen aufwar­ten und entspannte so die Programm­ge­stal­tung. Fast 80 Auffüh­run­gen hatte das Festi­val zu bieten. Einige Eindrücke:

• Alex­an­der Riemen­schnei­der ist in Hamburg ein bekann­ter Name. Er kam zum Kalt­start mit seiner strin­gen­ten „Kaspar“-Insze­nie­rung am Thea­ter Bonn: Mit einem Satz sich die Welt zu eigen machen. Mit Wörtern Gegen­stände benut­zen können. Mit Regeln Ordnung in das Leben brin­gen. Das will Kaspar nun lernen. Er ist bisher ohne (die) Gesell­schaft aufge­wach­sen. Erst im Erwach­se­nen­al­ter trifft er auf andere Menschen. Die Worte, die er nicht kennt, schmer­zen ihn. Seine Lehrer setzen sich Wolfs­mas­ken auf. Denn er soll zu einem funk­tio­nie­ren­den Mitglied der Gesell­schaft erzo­gen werden. Am Ende könnte Kaspars auswen­dig gelernte Selbst­be­schrei­bung die Vorlage für ein heuti­ges Bewer­bungs­schrei­ben eines idea­len Mitar­bei­ters sein: „Flexi­bel, genüg­sam, anpas­sungs­fä­hig“. Seine Sieger­pose wird während seines „I am what I am“ zu einer verzerrt lachen­den Grimasse, aus dessen aufge­ris­se­nem Grin­sen das Blut läuft.

• Wie die Welt eines Mannes in sich zusam­men­stürzt, macht Thiemo Strut­zen­ber­ger in der „Geschichte meiner Einschät­zung am Anfang des drit­ten Jahr­tau­sends“ zu einem Erleb­nis. Eigent­lich geht es ihm gut. Er hat Geld, Arbeit, eine Wohnung, eine Frau. Sein Sofa beschreibt er als hoch­qua­li­ta­tiv. Doch plötz­lich bricht ein Bein des Sofas ab. Der Mann und mit ihm seine Welt kommen ins Rutschen. Ein riesi­ger Schlund tut sich auf. – Man lacht wider Willen, wenn dieser schüch­terne, empfind­same Melan­cho­li­ker seine Groß­wet­ter­lage beschreibt: Aus der immer schei­nen­den hellen Sonne mit eini­gen Cumu­lus­wölk­chen wird zunächst ein Schau­er­wet­ter bis nur noch einzelne Licht­blitze die Raben­schwärze seines Lebens erhel­len. Der Themen­kom­plex Liebe gleicht in seiner Wahr­neh­mung einem Absturz in die Kana­li­sa­tion bei einem Wolken­bruch, der alles mit in die Tiefe reißt. – An Besse­rung glaubt er nicht: Leise summt er am klei­nen Keyboard: „Nothing’s gonna change my world“. Eine beein­dru­ckende Umset­zung des Textes von Peter Licht vom Schau­spiel­haus Wien.

• „Büch­ner ist Rock“ – auf diese These bringt Ludo Vici aus München sein Stück „Ich, Georg Büch­ner“. Er porträ­tiert den jung gestor­be­nen Dich­ter mit einer dich­ten Szenen­col­lage, die er mit seiner Band vertont. Land­schafts­be­schrei­bun­gen werden mit zarten Elek­tro­gi­tar­ren­klän­gen unter­legt, die revo­lu­tio­nä­ren Aufrufe im „hessi­schen Land­bo­ten“ mit wüten­den Rock­schlä­gen. Ludo Vici im löch­ri­gen Leder­man­tel und mit Glatz­kopf ist viel­schich­ti­ger Inter­pret des aufbe­geh­ren­den Büch­ners. Er zeigt die verschie­de­nen Facet­ten des talen­tier­ten James Deans der Lite­ra­tur. Er ist das Zentrum der Auffüh­rung. Auf die Darstel­lung der weite­ren Rollen hätte bei seiner Stärke verzich­tet werden können. Das beweist er in der Szene aus dem „Woyzeck“, als er die Titel­fi­gur und den Doktor gleich­zei­tig spielt, indem er als Doktor seinen Kopf senkt, auf dessen Glatze ein lächeln­des Gesicht gezeich­net ist.

• Nebel, Thea­terg­rol­len - vier Schau­spie­ler, als türki­sche Muttis verklei­det, schlur­fen auf die Bühne. Das Klischee lässt grüßen. Lachend reißen sich die vier die Tücher vom Kopf und zum Vorschein kommen Jungs einer Schul­klasse, die in „Inva­sion!“ von einem Thea­ter­be­such ihrer Klasse erzäh­len, der mit einem Raus­wurf endete. Regis­seu­rin Mina Saleh­pour vom Staats­thea­ter Hanno­ver versteht ihr Hand­werk zum Glück viel besser als die Macher des Schul­klas­sen­stü­ckes. Mit leich­ter Hand und siche­rem Gespür für die Poin­ten erzäh­len ihre vier spiel­freu­di­gen Darstel­ler von dem ruhm- und legen­den­rei­chen Abul­ka­sem. Wie sich die trau­ri­gen, lusti­gen, pein­li­chen und berüh­ren­den Geschich­ten um diesen Abul­ka­sem ranken, ist so unter­halt­sam und hinter­sin­nig insze­niert, dass der über­volle Saal im III&70 zum Schluss begeis­tert applaudierte.

• Auch Tanz war dieses Mal vertre­ten: „Halt mir einen Platz frei, bis ich anders wieder da bin“ vom Berli­ner Hebbel am Ufer. Zwei nackte, stark behaarte Urmen­schen liegen auf dem Boden. Eine frühe Form des Hospi­ta­lis­mus scheint sie zu plagen. Sie rutschen, reiben und schau­keln in emsi­ger Selbst­be­zo­gen­heit auf dem Boden. Kein Blick­kon­takt stört die Selbst­be­frie­di­gung. Sie schnau­fen, grun­zen und heulen. Eine Urschrei­the­ra­pie hilft weiter. Laute Brunft­ge­räu­sche kündi­gen die Paarungs­zeit an. Balan­ce­akte auf dem Ande­ren lösen kunst­volle Verkno­tun­gen ab. Angela Schu­bot und Martin Clau­sen erkun­den in ihrer gemein­sa­men Arbeit die gesell­schaft­li­chen Verpflich­tun­gen zur Anpas­sung und die Funk­tio­nen und Aufga­ben der Liebe. – Eine inter­es­sante Studie, die jedoch bis zum Schluss schön rätsel­haft blieb, zumal die beglei­tende Musik der Gruppe „Formel­we­sen“ aus der Origi­nal­ver­sion beim Kalt­start­fes­ti­val fehlte.

• Eine beein­dru­ckende Arbeit ganz ande­rer Art: Wie im Warte­zim­mer auf das Leben fühlen sich Tom und Chris. Doch die Nummern, die aufge­ru­fen werden, sind nie die ihren. Sie fris­ten ihr Dasein in einem Gefäng­nis auf der „Insel“. Statt den ganzen Tag Steine am Strand von einer Seite auf die andere zu schlep­pen, tragen sie die Warte­zim­mer­stühle von rechts nach links und zurück. Kündigt die Tril­ler­pfeife endlich das Ende dieses Arbeits­ta­ges an, ziehen sie sich in ihre Zellen-Schick­sals­ge­mein­schaft zurück. Chris bemüht sich, Tom für eine Auffüh­rung des Klas­si­kers „Anti­gone“ im Knast zu inter­es­sie­ren. Tom entführt Chris mit einer „Gute­nacht­ge­schichte“ in einen Club. Dazu sprin­gen die Stahl­tü­ren des Schranks auf und Schein­wer­fer lassen Tom im hellen Gegen­licht erstrah­len, während er eine HipHop-Nummer hinlegt. Dann rappen und break­dan­cen die beiden, was der Boden ihrer Zelle hergibt. Hervor­ra­gende Insze­nie­rung des Staats­schau­spiels Dres­den von Fabian Gerhardt mit den zwei tollen Schau­spie­lern Chris­tian Clausz und Thomas Schumacher.

• Die dritte Woche war den Studi­en­pro­jek­ten der Thea­ter­aka­de­mie im Finale vorbe­hal­ten. Viele Projekte aus Hamburg konn­ten leider nur in Ansät­zen über­zeu­gen. Da mach­ten die zwei Gast­spiele der Berli­ner Hoch­schule Ernst Busch mehr her. Eines davon war „Helden“. Eine Insze­nie­rung, bei der alles stimmte: Text von Ewald Palmets­ho­fer, Insze­nie­rung von Roscha A. Säidow, Musik von Atheer Adel und die ener­gie­ge­la­de­nen Darstel­ler. – „Uns geht’s doch wirk­lich gut“, sagt die Mutter (Anto­nia Bill). Sie sieht es als ihre Aufgabe, eine Bilder­buch­fa­mi­lie vorzu­stel­len. Ihr Ehemann (Andy Klin­ger) steht ihr dabei stets eilfer­tig zur Seite. Auf der Bühnen­rampe arbei­ten sie an ihrer Selbst­dar­stel­lung und nutzen sie für Botschaf­ten an die Welt. Ihre Liebe erdrückt die Kinder. Der Toch­ter (Jasna Bauer) bleibt die Luft zum Atmen weg, der Sohn (Chris­tian Löber) sieht sich zu einem Punkt zusam­men­schrump­fen. Sie suchen nach einem Weg, ihre pass­ge­naue Einsor­tie­rung ins System zu verhin­dern. Nachts werden sie zu Helden, die sich wehren. Sie legen ihre Klei­dung ab, und zum Vorschein kommen Catwo­men und Spider­man. Endlich können sie aufbe­geh­ren und sich gegen den Zugriff ihrer Eltern wehren, die das Glück nur spie­len, aber vor Unzu­frie­den­heit je nach Tempe­ra­ment schla­fen oder heulen.

• Einzig „die heilige Cäci­lie“ aus Hamburg konnte dage­gen punk­ten. Die Macht der Musik ist ein Thema des Kleist’schen Erzäh­lung „Die heilige Cäci­lie“. Heute ist Musik allge­gen­wär­tig. So war für die Insze­nie­rung von Lea Connert der Ausgangs­punkt klar. Der allum­fas­sende Einfluss der Musik und der Tech­nik auf unser heuti­ges Leben sollte erkun­det werden. Alle Betei­lig­ten waren aufge­ru­fen, ihre eige­nen Erfah­run­gen und Ideen beizu­tra­gen. So ist aus ihrer gemein­sa­men Arbeit eine Szenen­re­vue gewor­den. – In fanta­sie­vol­len Plas­tik­kos­tü­men kommen die Vier mit Robo­ter­be­we­gun­gen auf die Bühne, wo vier Mikro­phone von der Decke baumeln. Mit immer neuen Nummern spüren sie den Erfah­run­gen ihrer MTV-, iPod- und Web2.0.-Generation nach. Sie zeich­nen eine Entwick­lung nach, die immer mehr mensch­li­che Funk­tio­nen durch Maschi­nen erset­zen lässt. Ihre Prognose ist düster: Übrig blei­ben Tech­no­kör­per und ein Rauschen aus einem der zahl­rei­chen Radio­ge­räte, die für den Anfangs­punkt dieser Entwick­lungs­spi­rale stehen mögen. Ideen-, ener­gie-, spaß­rei­che Umset­zung, wenn sie auch die Verbin­dung zum Ausgangs­punkt von Hein­rich Kleists Geschichte weit­ge­hend im Diffu­sen beließ.

Die drei Wochen zeigen: Den jungen Regis­seure, die mit ihren Arbei­ten bei Kalt­start vertre­ten waren, schei­nen die derzei­ti­gen Diskus­sio­nen um das Regie­thea­ter rela­tiv egal zu sein. In ihren Insze­nie­run­gen stehen die Geschich­ten, die sie erzäh­len wollen, klar im Vorder­grund. Die Kalt­start Orga­ni­sa­to­ren um Falk Hocquél, Thimo Plath und Sarah Theil­a­cker haben es wieder einmal verstan­den, profes­sio­nel­les Thea­ter nach Hamburg zu locken. Die erste Woche bot quali­ta­tiv hoch­wer­ti­ges Thea­ter. In der zwei­ten Woche wurde das Programm zuneh­mend expe­ri­men­tel­ler. In der drit­ten Woche gab es das Finale der Thea­ter­aka­de­mie in den Zeise­hal­len; dieses Mal war es in die letzte Woche verla­gert worden. Das führte einer­seits zu einer mühe­lo­se­ren Programm­ge­stal­tung, leider aber auch zu dem Eindruck, es handle sich nur um ein Anhäng­sel. Der wurde noch dadurch verstärkt, dass die Akteure des Fina­les sich zwar an den Spiel­or­ten auf der Schanze zeig­ten, die Spie­ler von dort ihren Weg nach Altona aber eher nicht fanden.

Birgit Schmal­mack

Foto rechts oben: „Ich, Georg Büch­ner“ von Ludo Vici aus München // Foto: Kaltstart

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