Text: Birgit Schmalmack | Foto: Reinhard Werner
Das Hamburger Theaterfestival 2014 ist nach acht Inszenierungen, deren Gastspiele sich über zwei Monaten verteilten, zu Ende. Festivalleiter Nikolaus Besch bot dieses Jahr Theater für Fortgeschrittene. Er holte dazu Bekannte, aber auch Ungewohntes, Forderndes und Anstrengendes auf die Hamburger Bühnen.
Gleich der erste Abend bewies dies: „Warum habe ich als einer der wenigen überlebt?“ Das fragen sich die sechs letzten Zeugen, die zum Eröffnungsstück des Wiener Burgtheaters auf der Bühne des Schauspielhauses standen. Vier Schauspieler berichten von deren ungeheuerlichen Erfahrungen in Theresienstadt, Neuengamme, Auschwitz, Wilna und Dachau, die sie als Kinder durchleiden mussten. Den Einmarsch der Russen erlebten die Überlebenden als ersehnte Befreiung, an die sie nicht mehr zu glauben gewagt hatten. Doch die Erinnerungen werden sie nie loslassen. Sie haben ihr Leben so geprägt, dass sie es der Erinnerung an die sechs Millionen Toten der Nazi-Diktatur verschrieben. Der Regisseur Matthias Hartmann hat ihnen dieses wichtige Theaterstück gewidmet, bevor es zu spät ist. Denn sie sind im Alter von 81 bis 101 Jahren „Die letzten Zeugen“. Dieser Abend kommt ohne theatralen Aufwand aus. Er zeigt nur originale Schwarz-Weiß-Fotos und die projizierten Köpfe der anwesenden Zeitzeugen. Den Erzählungen, die ohne Anklagen, aber mit Verpflichtungen verknüpft sind, kann sich keiner entziehen. Sie machen sprachlos, drücken nieder, berühren und rufen auf gegen das Vergessen und zur Verantwortung.
Eine Wand steht zwischen den beiden Kriegsgegnern (Wolfram Koch, Samuel Finzi). Ihre Perspektive und ihr Blick auf den anderen sind begrenzt. In dem Moment aber, in dem sie hinter der Wand vortreten, wird klar, wie ähnlich sie sich sind. Wie zwei Gäste, die sich auf einer Party begegnen, aber nicht dieselbe Sprache sprechen, retten sich die beiden Männer zunächst in pantomimische Lockerheit, um die Peinlichkeit der Situation zu überspielen. So unterhaltsam und clownesk lässt Dimiter Gotscheff „Die Perser“ von Aischylos anfangen. Was ganz ohne Worte und dennoch leicht verständlich beginnt, mündet anschließend in einer Wortkaskade, in der die einzelnen Worte wie Kanonenschüsse auf die Zuschauer abgeschossen werden. Man formt keine Sätze, die Verständnis erzeugen sollen, sondern eine Wand aus Worten, die das Unfassbare der Ereignisse demonstrieren soll. So wurde die zweite Aufführung des Hamburger Theaterfestivals zu einem fordernden Theaterabend, der dank der hervorragenden Schauspieler für den funktionierte, der diese Anstrengung nicht scheute.
Wie eine Statue steht sie da. Zweieinhalb Stunden wird „Die Jungfrau von Orleans“ sich nur einmal vom Fleck bewegen. Wie in Stein gemeißelt ist sie in ihrer Rolle gefangen, die Johanna laut eigener Aussage von ganz oben verliehen bekam: Die Mutter Gottes ist ihr erschienen und hat ihr einen großen Auftrag erteilt. Regisseur Michael Thalheimer arrangiert daraus ein Theater der Ideen, Konzepte und Postulate. Unter der schwarzen Kuppel (Bühne Olaf Altmann), in die zunächst nur ein winziger Lichtstrahl fällt, der einzig Johanna erleuchtet und alle anderen im Dunkeln stehen lässt, ist kein Platz für Bewegung. Alle Figuren sind zu Rollenvertretern geschrumpft. Für menschliche Interaktion ist hier kein Platz mehr. Ablenkung erlaubt Thalheimer den Schauspielern ebenso wenig wie den Zuschauern. Das ist Konzepttheater, das Theorien und Menschen wie in einer Versuchsanordnung unter eine gewollt wissenschaftliche Analyse stellt.
Andrea Breth hat wunderbare Schauspieler des Burgtheaters Wien für ihre Show der absonderlichen „Zwischenfälle“ zu Verfügung. Blutige Nasen, träumerische Sequenzen, künstlerische Musikstücke, humorvolle Tanzeinlagen, Witze ohne Worte, unmotiviertes Türenknallen, makabre Geschichtchen – all‘ das wird hinter einem Gazevorhang zu einem Kaleidoskop der Skurrilitäten zusammengestellt, die von Blacks mit Explosionen, Zuggeratter, Donnern und Kreischen unterbrochen werden.
Breth will überraschen, und das schafft sie spielend. Kaum ist eine Erwartungshaltung aufgebaut, wird sie unterlaufen. Philosophisches wird mit Klamauk kontrastiert, Träumerisches mit Derbem, Märchenhaftes mit Gewaltexzessen. Drei Stunden lang füttert sie ihre Zuschauer. Die Ideen für die Szenen von Courteline, Cami und Charms scheinen ihr nie auszugehen. Manchen Zuschauern war das zuviel. Nach der Pause blieben einige Stühle leer.
Nach zehn Jahren treffen sich die Ex-Ehepartner in „Gift“ zum ersten Mal wieder. Zum Millenniumswechsel hatte der Mann (Ulrich Matthes) seine Frau (Dagmar Manzel) verlassen. Knapp ein Jahr davor war ihr gemeinsames einziges Kind bei einem Autounfall gestorben. Wie geht ein Elternpaar mit dem Tod seines Kindes um? Gibt es ein Leben danach? Ist so etwas wie Glück wieder möglich? Ihre Antworten sahen so unterschiedlich aus, dass sie zuerst ihr Kind, dann sich selbst und schließlich einander verlieren.
Das kluge Stück von Lot Vekemans nimmt gefangen. Ganz unspektakulär zeigt es gelebtes Leben in Echtzeit. Dem hat die Regie nichts hinzuzufügen, Regisseur Christian Schwochow gibt ihm nur den Raum. Diese Inszenierung vom Deutschen Theater wird sicher nicht wegen des Einfallsreichtums der Regie zum Hamburger Theaterfestival eingeladen worden sein, eher aufgrund der beeindruckenden schauspielerischen Leistung und zum Beweis, dass es auch in Zeiten der Postdramatik noch schnörkelloses, intensives Dialog- und Zuhörtheater gibt.
„I don`t agree with life“, stellt die Frau (Elsie de Brauw) gleich zu Beginn klar, während sie die Altkleider sortiert. Doch sie ist eine, die nicht aufgibt. Auch auf ihrer Müllhalde des Lebens bewahrt sie ihre Würde und wacht aufrecht über die anderen auf der Halde. Diese bewegen sich wie anpassungsfähige Tiere meist kriechend durch den Abfall der Gesellschaft.
Sobald dazu allerdings Bachs wunderschöne Musik erklingt, wird die Schönheit in dem Dreck erkennbar. Plötzlich erhalten die abgehackten Bewegungen eine neu gewonnene Geschmeidigkeit, die vorher nicht zu sehen war. Bald jedoch mischen sich verstörende Töne unter die harmonische instrumentale Musik: Ein Gehörlosenchor singt Kantaten von Bach. Aus Bachs Wunderwerken der Harmonie wird eine anrührende Kakophonie der Töne. Der belgische Choreograph Alain Platel sucht und findet für seine Choreographie „Tauberbach“ in all diesem Aussortierten, nicht der Norm Entsprechenden und Absonderlichen viele schillernde Bruchstücke des Schönen und Erhabenen. Dann fahren die Tänzer mit den Scheinwerfertraversen nach oben und erheben sich über alles Irdische. Ein Abend, der den Zuschauern keine heile Welt vorgaukelt, sie nicht vor dem Verstörenden, Abstoßenden und Unangenehmen verschont und sie dennoch die kleinen Inseln der Würde und der Schönheit entdecken lernt.
Der Intendant des Hamburger Theater Festivals Nikolaus Besch hatte sich 2014 anscheinend vorgenommen, die große künstlerische Vielfalt des Theaters auf deutschsprachigen Bühnen zu zeigen. Von moralisch aufrüttelndem Dokumentartheater, philosophischem Figurentheater, absurdem Skurrilitätentheater, unterhaltsamer Verwechselungskomödie, intensivem Kammerspiel, anstrengendem Konzepttheater bis zu bewegendem Tanztheater war alles dabei. Auf leichte Verdaulichkeit hatte Besch dieses Mal nicht gesetzt. Auch mischten sich unter die bekannten Namen wie Thalheimer, Hartmann und Maertens einige neue wie Familie Flöz und Alain Platel. Dennoch waren die Reihen immer sehr gut gefüllt. Man darf gespannt sein, ob dieser Vertrauensvorschuss der Stammzuschauer auch nächstes Jahr noch gilt.