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Horizont verstellt

„Fleisch ist mein Gemüse“, Deutsches Schauspielhaus
Fleisch ist mein Gemüse

Psychedelisches Volkstheater mit Studio Braun. Auf dem Foto fehlen Rocko Schamoni, Heinz Strunk u. a.

Heimat ist, wenn einer ins Theater geht und hinterher versteht er die Welt. Hamburg-Harburg (Bindestrich, nicht „minus“), im Schatten der Phoenix-Werke (hier, historisch gesehen, doch „minus“) Zwergenhäuser. Wer hier in der ersten Hälfte der 60er auf die Welt kommt, ist zu spät geboren für Utopien und zu früh, als dass ihm alles, was so passiert, am Arsch vorbeigehen könnte. Einfach so oder am eigenen. Musik hat da schon so manchem geholfen, Gitarre, Gesang, Trompete, Tanzschritte, Sex. Durchschnittlich 1964 sind Heinz Strunk, Jaques Palminger und Rocko Schamoni geboren – als Studio Braun geben sie seit 1998 Antworten auf die dringendsten Fragen des bis heute geburtenstärksten Jahrgangs der deutschen Geschichte. Warum ich? Und: Warum nicht jetzt?

Heinz schlüpft aus einem Ei. Mama, Oma, Opa erwarten ihn, laden ihn in ihr Zwergenhaus ein, ziehen ihn groß mit Braten und Beilagen und Berichten von der Front. Oma und Opa sterben, Heinz bleibt mit der psychisch kranken Mutter zurück, die im Bett liegt und träumt, im Wald von Jägern erschossen zu werden. Heinz träumt von einem besseren Leben. Er träumt vom ersten Sex. Das sind die wahren Probleme eines Mannes, der ein Mann sein will. Aber Männer sind mit diesem Problem glücklicherweise nicht allein. Sie können sich zusammentun und ihr Lebensthema theatralisieren. Sie werden daran erwachsen oder verschreiben sich professionell der messerscharfen Analyse von menschlichen Innenwelten, um nicht erwachsen werden zu müssen. In der Regie von Studio Braun löst sich diese Beschäftigung seit Jahren in ihrer Erfindung des „psychedelischen Volkstheaters“ ein und auf der Bühne des Schauspielhauses jetzt in Bildwelten (Bühne: Damian Hitz) auf, die märchenhaft den Horizont verstellten. War da noch etwas? Ach ja, die Antwort auf dringende Fragen: „Ich Ich Ich Haben Haben Haben Jetzt Jetzt Jetzt!“

Zur Premiere von „Fleisch ist mein Gemüse“, einer Neufassung der Produktion „Phoenix – wem gehört das Licht?“, mit der Studio Braun 2005 in Hamburg Premiere gefeiert hatte, kam selbst der damalige Schauspielhaus-Intendant Tom Stromberg. Er hatte Studio Braun kurz vor Ende seiner Intendanz noch seine Bühne überlassen und damit einem Kult den Weg bereitet. Bevor die große Bühne im Schauspielhaus umgebaut wird, ist Studio Braun mit „Fleisch ist mein Gemüse“ sozusagen auf Abschiedstournee. Und wie das so ist bei Abschiedstourneen, da wird Geschichte geschrieben und da ist man gern noch einmal dabei. Die Menschen im Saal waren von der Leistung des Ensembles zurecht begeistert und applaudierten stürmisch. Nicht Stromberg natürlich, sondern den hervorragenden Darstellern des Abends in den skurril-realistischen Kostümen von Dorle Bahlburg. (Weitere Vorstellungen am 27. Februar, am 7., 21. und 30. März, am 29. April und am 20. Mai 2012).

Text: Stephanie Schiller
Foto: GODOT / Schiller

 

 

 

 

 

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