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Internationales Sommerfestival 2013

Kampnagel
Olivier Dubois: Tragédie

Olivier Dubois Choreografie „Tragédie“ braucht keinen Kostümbildner

Text: Birgit Schmalmack | Foto: Francois Stemmer

Der neue künstlerische Leiter András Siebold hat für sein erstes Internationales Sommerfestival auf Kampnagel nicht nur auf sichere Nummern gesetzt, die bereits von anderen Festivalleitungen durch ihre Einladung abgesegnet worden waren; er zeigte auch Uraufführungen, die erst durch Kampnagel angestoßen wurden. Drei Wochen lang sorgte das pralle Programm für gut gefüllte Hallen.

So entwickelt sich zwischen den drei künstlerischen Eckpunkten Bildende Kunst, Musik und Tanz in „Dark Material“ ein intensiver Kampf um Strukturen und Beziehungen. Die bildende Künstlerin Monika Grzymala zeigt sie durch Linien, die sie in vielfältigen Formen auf die Bühne bringt, das Ensemble Xiu Xiu durch ihre vereinnahmende, anstrengende und anregende experimentelle Elektro-Musik und die beiden Tänzer Jeremy Wade und Maria Scaroni durch ihre Beziehungsgeschichte in mehreren Akten. Das Experiment zwischen den Sparten gelingt: Mit klaren, schnörkellosen Bewegungselementen lassen sie Bilder im Kopf entstehen, die einige mögliche Geschichten erzählen.

Die schwarz glänzende Schräge mit ihren gläsernen Rokoko-Stühlen bietet die perfekte Bühne für die vier Darsteller in ihren aufwändigen barocken Kostümen in der auf Kampnagel uraufgeführten Barockoper „You us we all“. Die künstlerische Zusammenarbeit zwischen dem Barockorchester Box, der Musikerin und Komponistin Shara Worden und dem Texter und Regisseur Andrew Ondrejcak bescherte dem Sommerfestival ein unbeschwertes ästhetisches und musikalisches Vergnügen. Wunderschöne hintersinnige Kompositionen, tolle Sängerpersönlichkeiten, ein klares Bewegungskonzept und beziehungsreiche Texte schufen eine gewinnbringende Verbindung zwischen Gestern und Heute. Hier zeigte ein Künstlerteam, dass Wohlklang und Botschaft keine Gegensätze sein müssen.

Alte Hamburger Bekannte brachte Kampnagel für „Sound of Silence“ zusammen. Die Show von Jan Plewka und Tom Stromberg bietet ohne Zweifel gute, akribisch ausgefeilte Konzert-Unterhaltung, doch sie reicht leider nicht an das Niveau des legendären Rio Reiser-Abends von Plewka im Schauspielhaus heran. Ihre „Zeitlosigkeit“ lässt die menschelnden Zwischentöne und einstigen Botschaften vermissen, die sie ebenfalls auf einen Kultstatus mit Mehrwert hätte erheben können.

Auch der nächste Regisseur weckte Erwartungen. Die perfekt gestylte „King Size“-Hotelsuite verspricht Erholung pur. Doch die hätte Regisseur Christoph Marthaler in seinem musikalischen Arrangement wohl kaum interessiert. Während die beiden hervorragenden Sänger versuchen, sich mit Hilfe von träumerischen Songs in den Schlaf zu singen, spaziert eine ältere Dame wie eine Wiedergängerin mehrfach durchs Zimmer. Mal erzählt sie von fickenden Amöben, mal räsoniert sie über ihre verschwundene Jugend, mal philosophiert sie über die Irritationen des Alters. Danach klappt sie ihre Handtasche auf und schaufelt sich mit dem Schuhanzieher Spaghetti in den Mund. Marthaler gibt mit „King Size“ eine massentaugliche Version seiner Arbeiten, die die Hamburger aus früheren Intendanzen des Schauspielhauses gut in Erinnerung haben dürften. Die dauerten eher drei- als eineinhalb Stunden und boten wesentlich mehr an Irritationen und Verstörungen als dieser vergnügliche, kleine Abend.

Die belgische Künstlerin Miet Warlop inszeniert in „Mystery Magnet“ eine Bilder- und Farbbeutelflut, die im wahrsten Sinne die Bühne und die Sinne der Zuschauer überschwemmt. Das Tempo, in dem die Ideen abgebrannt werden, ist enorm. Zum Schluss ist die Bühne selbst ein Kunstwerk aus ineinanderfließenden Farben, das wurde vom staunenden Publikum auf Handys festgehalten. Man hat mehr Spaß an der Performance, wenn man nicht versucht, einen durchgehenden roten Faden zu suchen, sondern sich einfach von der Ideenflut beeindrucken lässt.

Eine silbern glänzende Go-Go-Tänzerin stakst in „The Pyre“ einsam durch einen Lichttunnel, der im Nirgendwo zu verschwinden scheint. Ihre Bewegungen geschehen wie in Zeitlupe und verwackelt wie in einem You-Tube-Video, bei dem die Internetverbindung hakt. Sie bietet sich ihrem unsichtbaren Betrachter ganz dar, Po und Busen hervorgereckt, den Hals überstreckt, legt sie ihre Kehle frei wie ein sich ergebendes Tier. Diese Arbeit will mit aller Macht beeindrucken. Verzweiflung und Ausweglosigkeit sollen sich auch beim Zuschauer einstellen. Und dies gelingt der Choreografin Gisèle Vienne ohne Zweifel.

Zwei große Choreographien wurden zu den Höhepunkten des Festivals. Dem Sog der Arbeit „Tragédie“ von Olivier Dubois kann sich kaum jemand entziehen, wenn er die lange Expositionssequenz durchgehalten hat. Über 30 Minuten wird der pochende Herzschlag neben den schreitenden Füßen der 18 nackten Tänzer das einzige Geräusch bleiben. Im Gleichschritt wie Armeeangehörige bewegen sie sich über die leere Bühne. Ihre Uniform ist ihre Haut. Und die verweist gerade auf die Unterschiede statt sie zu kaschieren. Doch dann ist die Zeit der Einpassung vorbei. Mittlerweise hat sich die Musik zu einer rhythmischen Technotapete aufgepeitscht und lässt die Tänzer in einer Massenorgie zu einem engen Pulk verschmelzen. Aber auch das ist nur die Vorstufe zur nächsten paarweisen Annäherung. So direkt hat wohl noch nie ein Choreograph die Triebe der Menschen in Szene gesetzt. Doch er demonstriert auch, wohin die Auslebung der Extreme führt. Der kluge, hypnotisierende Aufbau von Dubois zieht geschickt in eine Gedanken-, Klang- und Bilderwelt hinein, die noch lange nachwirkt.

Was Wayne McGregor in „FAR“ zeigt, könnte die Leistungsshow einer auf absolute Perfektion und Leistung getrimmten Gesellschaft sein. Hier stimmt alles bis in die letzte Zehenspitze. Kein Gramm haben die Balletttänzer zu viel, jeder Muskel ist auf totale Effektivität trainiert. So wie die digitale Leuchtwand immer neue Muster und Bewegungen per Knopfdruck zu erfinden scheint, so funktionieren diese Menschen auch. Was unterscheidet sie noch von Maschinen? Wie steht der Verstand in Verbindung zum Körper? Danach fragt die Choreographie von McGregor bei all‘ ihrem vermeintlichen Feiern der schönen Oberflächlichkeit. Er bedient vordergründig die Vorurteile gegenüber der Sparte des Balletts, indem er sich aller ihrer äußerlichen Vorzüge bedient, um sie dann in akkurater Dekonstruktion zu hinterfragen.

Performance, Tanz, Musiktheater und Theaterkonzerte – Siebold sparte nur das Sprechtheater als Sparte in seiner Programmgestaltung aus. Von extrem laut bis ganz leise, von provozierend langsam bis sehr temporeich, von konventionell bis experimentell, von perfektionistisch bis improvisierend war einiges dabei. Er verzichtete ebenso auf ein inhaltliches Motto wie auf eine bestimmte künstlerische Ausrichtung. Viel wichtiger scheint ihm bei der Auswahl gewesen zu sein, dass jede der Inszenierungen ihre ganz dezidierte Handschrift und Haltung hatte. An denen konnte man sich reiben, aber nie so sehr, dass die gute Sommerlaune am Kanal getrübt wurde, zumal Siebold sorgsam darauf geachtet hatte, dass keine der Aufführungen über 90 Minuten dauerte. Selbst den Marthaler bekam man hier unter diese Marke.

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