Seien wir fair: Jede Generation hat ihre interpretatorischen Rechte. Solange das Werk eines großen Theaterdichters wie Lessing es aushält und die Zuschauer bei der Stange bleiben, darf ein wunderbar verrückter Regisseur wie Torsten Diehl die literarische Vorlage bis zum Äußersten strapazieren. So geschehen mit Lessings „Emilia Galotti“ im Monsun Theater, an der Diehl mit den Mitgliedern des – dem Theater angegliederten und von ihm geleiteten – Instituts für Schauspiel, Drama und Film diesen Versuch unternimmt.
Lessing jammert: „Wer über gewisse Dinge nicht den Verstand verliert, der hat keinen zu verlieren“, aber Diehl ist ein Abenteurer und seine Reise durch die meterhohen Wogen einer leicht verquasten Dramaturgie durchaus gelungen, weil seine szenische Fantasie überbordend zu sein scheint, er aber die Grenzen, die den Zuschauer vom Land des Unverstehbaren trennen, niemals überschreitet. So zum Beispiel besetzt er den intriganten Marinelli weiblich. Fehlten ihm ausreichend männliche Darsteller oder wollte er die Verführung des bei ihm ständig kopulationssüchtigen Prinzen durch die als Catwoman erscheinende Marinelline (beachtenswert begabt und stimmtechnisch trainiert: Ines Nieri) in letzter Konsequenz aufzeigen? Sie erträgt es gelangweilt, in jeder Situation durch den geilen Prinzen a tergo penetriert zu werden.
Diehls Inszenierung überspringt knapp drei Jahrhunderte und siedelt die Geschichte in einer aktuellen Pop-Szenerie an, zu der er gar einen intelligenten Prolog geschrieben hat. Dennoch bleibt erkennbar, was Lessing gemeint haben dürfte: Der Prinz (Alexej Lochmann) schwankt; Marinelli handelt. Schwanken und Handeln ist das Doppelantlitz des Verbrechens. Emilia ist eher Gegenstand der Begierde und dann der Opferung. Die eigentliche Tragödie spielt sich nicht im Herzen des Prinzen ab, wohl aber in seiner Intelligenz, in seinem Bewusstsein. Darinnen deckt sich ein politisches Kräftefeld auf: Die Verführung sitzt in der Macht, Macht und Verderben sind Geschwister. Conti, der Porträtmaler, ist zwar (bedauerlicherweise) gestrichen, aber das Gedankengut des mit ihm geführten Dialogs bleibt erhalten: Der bringt Wirklichkeitserhellung der Auren von Macht und Machthabern mit einer Unbestechlichkeit, die auch den Witz nicht scheut. Ob das allerdings so weit gehen muss, dass Vater Odoardo (wegen seiner einfachen Herkunft?) einen Dialekt spricht, der irgendwo zwischen Schwäbisch und Schwyzerisch siedelt (eine Bemühung, die er unverständlicherweise beim Eintritt der familiären Tragödie plötzlich aufgibt), bleibt fraglich.
Aber: Der überlange Abend hat großen Reiz, weil der begabte Regisseur mit seinem überwiegend jungen Ensemble pointierte Farben schafft.
Text: Hans-Peter Kurr
Foto: Monsun Theater